„Nix mehr Arbeit, geh nach Hause!“
Erschrocken stierte ich ihn an.
Wie die Hexe bei Hänsel und Gretel krümmte er seinen Zeigefinger. ,Herkommen!’, hieß das.
Ich beugte mich vor.
,Näher!’
Sicher würde er mir jetzt erklären, warum ich aufhören sollte zu arbeiten.
Als ich nah genug dran war, steckte er blitzschnell seinen Zeigefinger in meinen Ausschnitt, zog meine Bluse nach unten, blickte auf meinen Busen und ließ sich lachend in seinen Sessel zurückfallen.
Auf der Stelle drehte ich mich um und rannte aus seinem Büro. Unten an der Hotelauffahrt bemühte ich mich, meine Empörung und Verwirrung zu sortieren, mich von dem Schrecken zu erholen. Wie konnte Yaron so gemein sein? Wovon sollte ich nun leben? Keine Arbeit, kein Geld. Sollte das heißen, ich muss zurück nach Deutschland? Das war meine größte Angst. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich war verzweifelt. Was sollte ich jetzt tun? Was konnte ich tun?
Plötzlich lächelten mich zwei strahlend blaugrüne Augen an. Baruch, der Tennislehrer des Hotels. „Was ist denn mit dir los? Ich kenne dich nur fröhlich. Nun sehe ich dich weinen? Was kann es sein, das dich weinen lässt?“ Liebevoll legte er seinen Arm um mich.
„Ich habe meinen Job verloren“, platzte ich schluchzend heraus.
Laut schallend fing Baruch an zu lachen.
Nun war ich noch verwirrter, was gab es denn da zu lachen?
„Und deswegen weinst du?“ Baruch konnte sich gar nicht wieder beruhigen. „Da gibt es doch nichts zu weinen, seinen Job verliert man andauernd. Dann sucht man sich einen neuen, so ist das im Leben. Alle verlieren ständig ihre Arbeit und finden eine andere, darüber habe ich noch nie jemanden weinen sehen, bist du naiv!“ Mit diesen Worten ließ er mich stehen und ging runter zu den Tennisplätzen.
Jetzt war ich beleidigt. In Deutschland hätte man mein Problem gewälzt und sich in freundlichen Gesprächen ergangen. Dann fing ich an zu begreifen. Hier ist man pragmatisch. Wo nicht wirklich Not am Mann ist, geht man seiner Wege, und wo Hilfe notwendig ist, wird sie ohne Umstände geleistet. Kein unnötiges Palaver. Ich kam mir eng vor mit meinem Sicherheitsdenken, meiner Kleingeistigkeit, meiner Naivität. Ich spürte einen riesigen Unterschied zwischen mir und den Israelis. Sie waren so flexibel, hatten so wenig Angst, nahmen das Leben, wie es kam, sie fühlten sich so viel leichter an als ich. Wie sie wollte ich sein. So frei!
Tatsächlich fand ich schnell einen neuen Job. Man kannte mich in allen Hotels als Raffaels Sängerin und Keyboarderin. Nun spielte ich jede Nacht in der Hotelbar des kleinen Red Rock Hotels Klavier. Die Bezahlung stimmte.
Nach zwei Monaten sagten sie mir ab, zu wenig Gäste im Hotel.
Zur selben Zeit traf ich wie zufällig Raffi auf Straße.
„Hi, Marlisa, wie geht’s, willst du wieder bei mir spielen?“, kam er ohne Umschweife zur Sache.
„Ja.“
„Gut, dann sei morgen Abend um acht im Queen of Sheba, wir haben eine Show mit einem Schwarzen aus Trinidad. Wir werden ihn begleiten. Seine Songs gehen wir kurz vorher durch. Bye, bis morgen.“
Nirgendwo bekommt und verliert man Jobs so schnell wie hier. Israel ist eine gute Schule für Flexibilität.
Im Queen of Sheba standen neue Musiker auf der Bühne. Orit ist nach Tel Aviv gegangen, ein neuer Gitarrist aus Tel Aviv gekommen. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen, aber er beherrschte das gesamte Programm. Radshif war auch nicht mehr da, dafür spielte Raffi selbst das Schlagzeug.
Beim nächsten Auftritt spielte Radshif den Bass und der Russe Udi die Drums. Manchmal spielten wir auch mit zwei Gitarristen. Die Besetzung änderte sich ständig, für eine deutsche Band undenkbar. Hier ist eben alles anders.
Jemand aus dem Publikum lud mich auf ein Getränk ein. Zvika. Edle Erscheinung, sprach langsam und bedächtig, schien mir weise zu sein, das zog mich an.
Ich liebte es, ihn reden zu hören, verbrachte viele Abende mit ihm. Er liebte es, mir traditionelle israelische Musik vorzuspielen und von seinem Leben in Mexiko und Los Angeles zu berichten. Jeden Schabbat fuhren wir mit seinem Buggy die Küste entlang, um bei einem Strandcafé zu halten, Freunde zu treffen und das Leben zu feiern.
Eines Abends klingelte ich spontan an seiner Tür.
Erfreut begrüßte er mich. „Ich grille gerade ein Hähnchen im Patio. Willst du mitessen? Komm und bring das Brot mit.“
Sofort half ich den Tisch decken.
„Im Kühlschrank sind noch eingelegte Paprikas, bring sie bitte“, forderte er mich auf.
Während ich die Paprikas aus dem Kühlschrank holte, entdeckte ich Schafskäse. Mmh, das passt prima zu Hähnchen, ich nahm ihn gleich mit. Zvika war draußen mit dem Fleisch beschäftigt. Ich setzte mich zu ihm und schaute hoch in den dunklen Abendhimmel. Der Widerschein der Stadtlichter lag wie eine orangefarbene Wolke über den Häusern. Gedämpft drangen die Geräusche bis zur hinteren Häuserreihe zu uns vor. Die Luft war wunderbar mild und lau, ich genoss es, im privaten Patio geschützt zu sitzen und gleichzeitig draußen im Freien zu sein.
Zvika begab sich zu Tisch, wir begannen zu essen. Auf einmal schreckte er hoch und fuhr mich an.
„Was fällt dir ein? Das gibt's doch wohl nicht. An meinem Tisch!“
Erschrocken fragte ich, was los sei.
„Der Schafskäse! Du kannst doch nicht Schafskäse auf den Tisch stellen, wenn wir Fleisch essen!“
„Du brauchst ihn doch nicht essen!“
„Ich mag überhaupt nicht mehr essen. Das gehört nicht auf denselben Tisch“, sagte er scharf sich abkehrend.
Von Rebecca vorgewarnt, was das koschere Essen angeht, habe ich von Zvika so eine Reaktion nicht erwartet, er war doch sonst so leger. Außerdem wusste ich nicht, dass ich den Schafskäse nicht auf den Tisch hätte stellen dürfen. Ich entschuldigte mich und brachte den Käse zurück in den Kühlschrank.
Er beruhigte sich wieder.
Wir blieben weiterhin Freunde.
Mohammed, ein junger Araber, wollte mit mir ein Bier trinken gehen. Trotz des Verbots meines Bandleaders, mich mit Arabern einzulassen, nahm ich die Einladung an. Ich war neugierig, ich wollte Araber kennenlernen, einfach um sie kennenzulernen, damit ich weiß, wie sie sind. Außerdem wollte ich wissen, ob es da einen Unterschied gibt zu Juden oder ob der Unterschied nur erfunden ist. Vielleicht um ein Feindbild aufrecht zu erhalten. Ich wollte Menschenkenntnis erhalten, also musste ich so viele wie möglich kennenlernen, oder wie erhält man Menschenkenntnis?
Mohammed gab sich große Mühe als Mann von Welt zu erscheinen und sprach mit ausgewählten, englischen Worten. Als wir aus dem Pub traten, legte er seinen Arm um mich, ich ließ es geschehen. Wir gingen an der Straße entlang. Auf einmal hupte Jossi mir vom Auto aus zu. Ich winkte zurück. Sofort wurde Mohammed wütend. Wie kann ich einen anderen Mann grüßen, wenn ich in seiner Begleitung bin. Was für Besitzansprüche! Ich gehöre doch niemandem, auch nicht, wenn ich mit ihm ein Bier trinken gehe. Mohammed wollte mich nicht verstehen. Er war grimmig. Ich sah ihn nie wieder.
Ich hatte das Herumstreunen satt, fühlte mich einsam, sehnte mich nach Vertrautheit, nach Familienleben mit festem Freundeskreis, nach dem Gefühl von Sicherheit. Mittlerweile kannte ich eine Menge Leute hier, hatte auch zu einigen engere Verbindung, aber eben keinen Partner. Ich wünschte mir einen israelischen Mann, durch den ich reinwachsen würde in diese Gesellschaft, anwachsen an die israelische Denke und Mentalität, einer von dieser großen Sippe werden und daraus Stabilität beziehen. Die Juden sind nicht nur so stark wegen ihres Glaubens, sondern vor allem wegen ihres Gefühls von Zusammengehörigkeit. Einheit macht stark. Ich möchte zu einer Einheit gehören.
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