1.5. Der Zweck dieses Buches
Dieses Buch erweckt den Anschein, neutral zu sein, weil es sowohl europäische, als auch russische und türkische Sichtweisen zum jeweils gleichen Problemfeld diskutiert und einander gegenüber stellt.
Der Schein trügt!
Dieses Buch ist ein Weckruf für die politische Klasse in der Europäischen Union und ein flammendes Plädoyer für einen geeinten Europäischen Patriotismus. Das hier beschriebene Vorhaben wird die Europäische Union tiefgreifend verändern, was in 13.2 noch genauer diskutiert wird.
Oft ist es leider so, dass erst eine Bedrohung von außen eine wirklich Kooperation in einer Gemeinschaft vormaliger Rivalen bewirkt. Was muss noch alles passieren, ehe die europäischen Völker merken, dass die Wirtschaftsmigration an ihrer Südflanke, die ungelösten geopolitischen Probleme an ihrer Ostflanke sowie die ungelösten Schuldenprobleme, die nicht erfolgte Einbindung von Zugewanderten sowie im Gefolge dessen das Erstarken von Rechtsparteien Ausmaße annehmen, die in ihrer Summe für den Fortbestand eines gemeinsamen Europas existenzbedrohend sind?
Nachbarn gibt es, seit es Menschen gibt. Als Menschen noch nicht sesshaft waren, begegneten sich die Nomadenstämme relativ selten, einige Male pro Jahr. Entscheidend dafür, ob eine solche Begegnung der Anlass für ein Gemetzel oder ein Fest wurde, war die Frage, ob diese Stämme zuvor bereits Schwiegertöchter ausgetauscht hatten, welche oft auch vermittelnde Funktionen einnahmen.
Mit dem Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht wurden die Menschen sesshaft. Die Sippen hatten ihre Parzellen, auf denen sie Feldfrüchte anbauten, ihr Vieh (die ersten Formen von Besitz und Eigentum) weideten und auch wohnten und schliefen. Fortan hatten sie auch dauerhaft die immer gleichen Parzellen-Nachbarn. Die häufigsten Konfliktursachen waren entlaufenes oder zugelaufenes Vieh, der Zugang zu frischem Wasser und beim Umpflügen verschobene Grenzsteine .
Bereits hier kristallisierte sich heraus, dass man diese nachbarschaftlichen Konflikte entweder konfrontativ oder kollaborativ lösen konnte. Durch Heirat konnten Parzellen zusammengelegt, durch Erbteilung konnten sie zerlegt werden. Nicht selten kam es vor, das blutige Erbstreitigkeiten mit der kompletten Auslöschung einer von mehreren Abkömmlingen sowie seiner Familie endeten. Geschah dies wechselseitig, entspann sich ein oft viele Generationen dauernder Gewaltkreislauf der B lutrache . Eine übergeordnete Gerichtsbarkeit , die solchen Auswüchsen Einhalt gebieten konnte, entstand erst mit dem Aufkommen der ersten Hochkulturen , die noch erheblich erweiterte Formen der Zusammenarbeit erforderten.
Ein gängiges Mittel, streitende Nachbarn dauerhaft auseinander zu bringen, war das Mittel der Verbannung . Im Gegensatz zur modernen Justiz wurden Delinquenten also nicht eingesperrt, sondern ausgesperrt. Auch in der Sowjetunion gab es im 20. Jahrhundert noch Verbannungen nach Sibirien . Nach 1990 sind weltweit keine weiteren Verbannungen bekannt geworden. Im Zeitalter von Internet und Smartphones sind sie auch weitgehend sinnlos geworden.
2.1. Nachbarn und Verwandte kann man sich nicht aussuchen
Der Gedanke der Zugehörigkeit zu einer Familie setzt sich mit steigendem Abstraktionsgrad fort über die Sippe, den Stamm, das Dorf, die Kommune, die Landsmannschaft, das Volk, die Nation bis hin zu einer transnationalen Wertegemeinschaft, je nachdem was oder wen man gerade als den oder die „anderen“ wahrnimmt oder benennt.
Die Europäische Union hat mit Russland und der Türkei zwei Nachbarn, die bisweilen ziemlich anstrengend und nervig sind, aber (und das werden die Gliederungspunkte 2.4.2. und 2.4.3. zeigen) in den Augen beider sind wir Europäer nicht minder anstrengend und nervig.
Insbesondere Russland hätte man nicht nur als Nachbarn sondern (aufgrund des gemeinsamen christlichen Glaubens, der gemeinsamen Zugehörigkeit zur Kaukasischen Rasse ) gleichsam als Verwandte zu betrachten. Auch Verwandte können anstrengend und nervig sein, aber man kann sie sich zumindest auf Abstand halten – nicht aber, wenn sie gleichzeitig Nachbarn sind.
Russland und die Türkei werden nicht von der Landkarte verschwinden, nur weil sich das manche im Westen heimlich wünschen. Sie werden dort sein, wo sie jetzt sind – dauerhaft. Anstatt diesen Zustand zu beklagen, sollten wir uns, heute und jeden Tag erneut, die Frage stellen: Wie können wir einander dauerhaft nützlich sein? Wer die Frage in dieser Form stellt und sich dann die Aufgaben näher betrachtet, die sowohl im Europa als auch im Nahen Osten ungelöst herum liegen, wird, wie in 4.2. sowie in 9. und 10. beschrieben wird, zu ganz erstaunlichen Antworten gelangen.
2.2. Schlimmer geht es immer – besser auch
Wenn nicht gerade Völkerwanderung ist (die letzte ist auch schon wieder fast 1500 Jahre her), dann hat ein Volk über Jahrhunderte hinweg die gleichen Nachbarvölker. Im Laufe dieser Zeit lernt man seine Nachbarn ziemlich genau kennen, in gutem wie in schlechtem Sinne. Das kollektive Gedächtnis eines Volkes neigt dazu, einmal gemachte Erfahrungen im Verlaufe mehrerer Generationen zu überhöhen, bis die sich daraus entwickelten Stereotypen und Vorurteile nichts mehr mit den ursprünglich gemachten Erfahrungen gemeinsam haben.
Negative Stereotypen erschweren eine Kooperation von Nachbarn, die in vielen Dingen dauerhaft aufeinander angewiesen sind, ganz erheblich. Sie haben, konsequent zu Ende gedacht, alleine zwischen Deutschland und Frankreich, seit 1618 zu mehr als einem Dutzend Kriegen geführt. Die von Adenauer und De Gaulle betriebene Aussöhnungspolitik in Form des Élysée-Vertrags kann daher gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Mit Russland in gleicher Weise eine gemeinsame Schnittmenge zu finden, wäre die umfangreichere, aber letztlich die leichtere Aufgabe, weil die kühle interessengeleitete politische Analyse, die auch über den Tag hinaus denkt, schon immer ein wesentlicher Bestandteil im politischen Inventar in Russland gewesen ist.
Die Türkei hingegen in gleicher Weise in solche politischen Lösungswege einzubinden, wird der Europäischen Union, ohne dass Russland in gleicher Weise Überzeugungsarbeit in der Türkei leistet, nicht gelingen. Die Türkei wird zu erkennen haben, dass, wenn sie auch in Zukunft versucht, ihre Nachbarn (die EU gegen Russland und Saudi-Arabien gegen den Iran , und alles nur, um die Kurden klein zu halten) fortwährend gegeneinander auszuspielen, sich ihr eigenes Pulverfass schafft, welches, wenn die Lunte einmal brennt, auch von der Völkergemeinschaft nicht wieder gelöscht werden kann.
Man kann den Nachbarn, je nach der jeweiligen historischen bzw. aktuellen Bedingtheit von seiner Grundeinstellung her entweder positiv oder negativ wahrnehmen. Die Aufgabe, eine unvoreingenommene und positive Grundeinstellung zum Nachbarn zu entwickeln und beizubehalten, liegt bei jedem selbst.
Um, bei allen Differenzen, trotzdem zu konstruktiven Ergebnissen zu kommen, ist es bisweilen notwendig, den Kontext der eigenen Sozialisierung zu verlassen und sich für einen Moment die Brille der Gegenseite aufzusetzen. Sie ist nicht weniger subjektiv als die eigene. Aber alleine dadurch, dass man, nachdem man durch beide Brillen geschaut hat, hat man plötzlich sehr interessante Vergleichsmöglichkeiten. Im Gefolge dessen kann auch leichter über Lösungen nachgedacht werden, die, ganz im Sinne der Dialektik , eine Synthese beider Sichtweisen, im besten Falle sogar eine Synergie , abbilden.
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