„Bist du die Ferne?“, fragte das krumme Lindenbäumchen. „Dafür bin ich noch zu klein. Ich glaube, die Ferne ist immer weit fort“, antwortete der kleine Elefant. „Meine Mutter sagt, sie heißt Indien.“
„Schade, dass Pappel und Eiche mich hier nicht sehen“, dachte das krumme Lindenbäumchen. „Ich werde ihnen meinen Traum erzählen.“
Endlich war der Heilige Abend da. Am frühen Nachmittag begann die Vorstellung. Die Leute kauften sich an der Zirkuskasse Eintrittskarten, gingen zuerst in das kleine runde Zelt, aßen Würstchen, Kekse oder Zuckerwatte und tranken Limonade. Auch Selma kam. Sie hatte ihren Großvater mitgebracht. Der Arzt hatte ihm zum Genesen einen „fröhlichen Abend“ auf Rezept verschrieben.
„Ich war schon eine Ewigkeit nicht mehr im Zirkus“, sagte er. Er ging noch etwas steifbeinig und drehte sich, wenn er jemanden grüßte, vorsichtig um, als wagte er sich nicht hinzusehen. Er schaute aber neugierig in alle Winkel, sodass Selma ihm kaum folgen konnte. Sie holte für sie beide die Karten. Dann aßen auch sie Würstchen, Kekse, Zuckerwatte und tranken Limonade. Zwei Clowns rissen die Eintrittskarten ein, blinzelten mit ihren langen angeklebten Wimpern und flüsterten: „Wir zeigen euch heute eine Weihnachtsüberraschung.“
„Wo ist sie?“, fragte Selma.
„Drinnen, im großen Zelt.“
„Süßigkeiten oder Spielzeug?“.
„Warte ab!“
Die Bankreihen füllten sich mit Zuschauern. Die Kinder waren besonders aufgeregt und unruhig, da sie nach der Vorstellung zu Hause mit dem Weihnachtsmann eine weitere Überraschung erwartete.
Selma und ihr Großvater saßen in der siebenten Reihe auf einer schmalen Holzbank. Selma konnte durch die Bretter vor ihren Füßen Gras und Sandboden des Platzes sehen.
Das Blasorchester spielte einen Marsch. Dann begrüßte der Zirkusdirektor die Zuschauer und sagte: „Freuen Sie sich auf eine Weltneuheit, auf eine Weltsensation. Heute tritt ein Gast in unserer Vorstellung auf, den sie alle kennen, aber hier nicht erwarten.“ Er verbeugte sich, und das Programm begann:
Ein Mädchen turnte an einer Schleuderschaukel. Der Scheinwerfer, begleitet von lauter Blasmusik, hob sie aus dem Halbdunkel. „Donnerwetter! Wirklich. Das ist die Weltneuheit“, riefen die Leute.
„Nein, jetzt kommt sie“, riefen andere, als ein Clown, ein armdickes Tau hinter sich herziehend, das irgendwo hinter dem gelben Vorhang endete, einen Riesensaurier ankündigte. Schließlich zog er mit dem Tau ein weißes Hündchen in die Manege.
“Oooh“, riefen die Zuschauer und „ach, wie man sich doch täuschen lässt.“
Danach lief ein dünner Artist auf einem Schlappseil hin und her und machte darauf unter lautem Trommelwirbel einen einarmigen Handstand.
„Aha!“, riefen die Leute und jubelten. „Das also ist sie, die Sensation.“
Dann kamen reitende Cowboys, die mit Lassos, und Indianer, die mit brennenden Messern warfen.
„Nein, so etwas haben wir noch nicht gesehen“, riefen die Zuschauer, „das wird die Weltneuheit sein.“
Dann jagten Pferde neben- und hintereinander durch die Manege; Kamele und Dromedare trabten mit hochmütigem Gesichtsausdruck und bildeten eine kleine Karawane; vier große indische Elefanten setzten sich auf Hocker, machten darauf einen Kopfstand und standen auf einem Bein, und eine Lamaherde sprang über Hürden im Kreis um sie herum.
„Wunderbar! Großartig! Hurra!“, riefen die Zuschauer und fragten sich verwirrt von so vielen Neuheiten: „War dies nun die Sensation?“
Als die Zuschauer zufrieden und etwas nachdenklich das Finale erwarteten, traten die beiden Clowns mit feierlichem Gesicht in die Manege. Sie trugen jetzt schwarz-weiß-karierte Schirmmützen, weite karierte Jacken, rote und gelbe Knickerbockerhosen, lange breite Schuhe und grüne Fliegen, die sich wie langsame Propeller drehten. Der eine hielt einen Vorschlaghammer in der Hand und schleppte einen Pappkarton auf seinen Schultern, der andere einen Holzpfahl und einen Spaten. Er hob den Pfahl, und plötzlich lag die Manege im Dunkel. Der rote Wagen jedoch und der gelbe Vorhang standen in hellem Licht. Und zwischen beiden duckte sich von der Helligkeit geblendet das krumme Lindenbäumchen.
„Ehe wir nach Hause gehen, wollen wir ein Weihnachtsbäumchen schmücken“, sagte der Clown mit der Schachtel. Das Orchester blies Weihnachtslieder, und beide Clowns schritten theatralisch zum krummen Lindenbäumchen.
„Großvater, sieh, das krumme Lindenbäumchen“, rief Selma.
„Das ist kein Weihnachtsbaum“, rief ein Kind.
„Wir begrüßen das Lindenbäumchen“, sagte der eine Clown. „Es hat jetzt seinen ersten Auftritt. Seht, es grünt. Es grüßt euch vom Frühling und ist sehr aufgeregt.“ Nun lockerte er mit dem Spaten das Erdreich um das krumme Lindenbäumchen, schlug neben ihm den Pfahl in den Boden, bog es behutsam, bis es aufrecht stand, schlang ein Seil herum und band es an den Pfahl. Dann öffneten sie die Pappschachtel und schmückten das Bäumchen mit silbernen Weihnachtskugeln und Lametta. „Schööön“, sagten beide Clowns und bestaunten ihr Werk. „Nun haben wir ein Zirkusweihnachtsbäumchen.“ Sie klatschten leise, als wollten sie den feierlichen Anblick nicht stören, in die Hände, und alle Zuschauer applaudierten.
„Wenn ich das Bäumchen so ansehe“, sagte der Großvater, „fühle ich den Schuss der Hexe nicht mehr.“ Er rekelte sich, streckte seine Arme zur Seite, in die Höhe, erhob sich, versuchte einige Kniebeugen.
Nachdem der Zirkus mit seinen dreizehn gelben und roten Wagen fortgezogen war, begann es zu schneien. Das einst krumme Lindenbäumchen stand aufrecht und fest am Weg. Lamettafäden hingen in seinen Zweigen, eine zerbrochene Glaskugel, und seine Blätter bedeckten sich mit Schnee. Der Pfahl aber stützte es wie ein starker kleiner Bruder. Und da es aufrecht stand, konnte es ein wenig über das kahle Rosengebüsch auf den gefrorenen Fluss sehen.
Auf dem verlassenen Platz roch es wie auf einem Bauernhof. Spatzen scharrten in Elefanten- und Pferdemist.
„Wo ist es gewesen, als der Zirkus auf unserem Platz gastierte?“, fragte die Pappel die Eiche, als sie das Lindenbäumchen entdeckte. „Täusche ich mich oder ist es gewachsen? In dieser Jahreszeit? Wie leichtsinnig. Und wie es sich herausgeputzt hat.“
„Frag’ es doch selbst“, sagte die Eiche. Dann schwieg sie bis zum Frühjahr.
Die Krähe flog herbei, hängte sich einen Lamettafaden um. „Die Ferne hat viele Gesichter“, sagte sie, „aber man sieht sie nie aus der Nähe. Wie schön du geworden bist.“
(Veröffentlicht in „Amsel Amadeus und der Graue Kater“, Holzheimer Verlag, Hamburg, 2005)
Spätsommerwochenende. Sie frühstückten bei offener Balkontür. Aus dem Radio tönte der Evergreen “Love again”, und er fühlte sich heiter und geborgen. Er stellte das Radio etwas lauter, summte das Lied, während er ein getoastetes Brötchen aufschnitt, wiegte im Takt den Kopf. Michael aß schweigend. Kathi trank von ihrem Früchtetee, blätterte im Fragenkomplex zu ihrer mündlichen Prüfung, blickte kurz zu ihrem Vater und verzog lächelnd den Mund.
Das Lied erinnerte ihn an einen unbeschwerten Sommertag Ende der Fünfzigerjahre in Spandau. An diesem Tag hatte er zum letzten Mal Susanne gesehen, ein sanftes Mädchen, das ihm jährlich den Geburtstag seiner Tante verschönte. Er versuchte sich an ihre Haarfarbe zu erinnern. Rotblond? Kastanienbraun? In ihrem Zimmer, während sie sich gegenübergesessen und sich unendlich lange in die Augen gesehen hatten, hatte er dieses Lied zum ersten Mal gehört. Soweit er sich entsinnen konnte, hatte er bis dahin noch mit keinem Mädchen so dicht und vertraut zusammengesessen. Er glaubte, noch den Geruch ihrer Haut und die Wärme ihrer Hand zu spüren, mit der sie ihm hin und wieder durch sein wirres Haar gestrichen hatte. Nun erinnerte ihn dieses Lied immer an eine tiefe Sehnsucht und an das abrupte Ende einer stillen beginnenden Freundschaft. Wenige Monate später ging er zur Armee, und während seiner Dienstzeit wurde die Mauer errichtet. Von Susanne hörte er später nur noch, sie lerne auf einem Gestüt in Oldenburg und habe sich verlobt.
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