Sie lernte seine Mutter kennen, aber die mochte sie gar nicht. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Wilburs Mutter machte ständig diese spitzen Bemerkungen in ihre Richtung, manche davon waren richtig gemein. Das konnte Melissa gar nicht leiden, sie war ein direkter Mensch und sagte was sie bewegte. Als sie seine Mutter aber direkt fragte, was ihr denn an ihr, Melissa, nicht passe, bekam sie zur Antwort, ihr Sohn hätte etwas Besseres verdient. Melissa sei schlimmer als das fahrende Volk, wahrscheinlich wollte sie ihren Sohn nur verführen, um reich heiraten zu können. Aber das würde sie nicht erlauben, sie würde Wilbur schon noch die Augen öffnen, über ihre Raffinessen. Melissa war bestürzt, sie rannte aus Wilburs Elternhaus und hätte die Beziehung beinahe beendet. So musste sie sich nicht behandeln lassen. Dorran und auch Simone waren empört, sie wollten schon intervenieren. Aber Wilbur war schneller, er stellte seine Mutter zur Rede, und verlangte ein anders Verhalten Melissa gegenüber. Sie sei die Frau, die er liebte und zu heiraten beabsichtigte. Wenn sie das nicht akzeptieren könne, ginge er fort. Wilburs Mutter, die ihren Sohn natürlich nicht verlieren wollte, versprach daraufhin, die Verbindung zu akzeptieren und netter zu Melissa zu sein. Tatsächlich bemühte sie sich eine Weile. Wilbur und Melissa glaubten ihr die Veränderung sogar. Als er sie dann fragte, ob sie seine Frau werden würde, willigte sie frohen Herzens ein, sie wusste, dass sie Wilbur liebte.
Als die Familie Dorran sich im nächsten Frühjahr für die Abreise bereit machten, gehörte Wilbur bereits zur Familie. Melissa und er hatten im Februar geheiratet. Seitdem wohnten sie in Wilburs Elternhaus, aber so richtig zufrieden wirkte Dorrans Tochter nicht, seine Mutter machte ihr schwer zu schaffen. Die Veränderung war nur von kurzer Dauer gewesen. Jetzt stellte Wilburs Mutter es nur klüger an, sowie sie mit Melissa allein war, setzte sie ihr zu. Melissa flüchtet oft zu ihrer Familie. Fast jeden Tag kam sie neuerdings zu Besuch, sie beklagte sich nicht direkt, aber wenn man sie kannte, merkte man ihr an, dass sie unglücklich war. Eines Abends fand Wilbur seine Frau weinend im Schlafzimmer vor. Er bohrte so lange nach, bis sie ihm alles erzählte. Wütend ging er hinaus, um seine Mutter erneut zur Räson zu bringen. Aber diesmal war diese nicht bereit Kompromisse zu schließen. Wilbur hatte genug, er stellte sie vor vollendete Tatsachen.
Während Dorran und Simone schon überlegten, ob sie wegen Melissa noch ein Jahr bleiben sollten, überraschte Wilbur sie alle. Einen Tag vor der geplanten Abreise stand er plötzlich mit einem geschlossenen Wagen auf dem Grundstück, eine überglückliche Melissa an seiner Seite.
„Wilbur kann überall Arbeit finden, er ist ein guter Schmied. Wir kommen mit euch, bei seiner Mutter bleiben wir nicht mehr.“ Das war eine große Freude, man überprüfte noch einmal die Vorräte, sammelte alles ein was noch herumlag, verstaute die Planen und verabschiedeten sich im Morgengrauen des nächsten Tages von Gertrude und ihrer Mutter. Dann fuhren sie los, natürlich wieder in den Norden.
Als sie nach fast zweijähriger Abwesenheit wieder in Kirchberg eintrafen, war Melissa schwanger. Dorran und Simone beschlossen daraufhin, das Haus wieder aufzubauen, jetzt war Juli, wenn jeder mithalf, hatten sie ein festes Winterquartier. Melissas Baby wurde im Dezember erwartet, das würde also passen. Man hatte die Wagenburg bereits um einen Wagen erweitert, während der Reise, die neue Formation hatte sich bewährt. Zwei Wagen standen sich gegenüber und der Dritte füllte die Lücke an der Windseite, es sah aus wie ein großes U. Die andere Seite war damit aus dem Wind und bildete den Eingang, der mit Planen verhängt wurde. Hier, an ihrem alten Zuhause, wurden sie zusätzlich noch vom dichten Wald geschützt, es war richtig heimelig.
Wilbur, Daniel und Dorran waren allesamt fleißige Arbeiter, und die Frauen halfen tatkräftig mit. Außer Melissa natürlich, diese wurde für die Verpflegung zuständig, niemand wollte dem ungeborenen Kind Schaden zufügen. Man freute sich wieder hier zu sein, die Hunde jedenfalls waren vom ersten Tag an wie ausgewechselt, sie schienen ihr altes Revier wiedererkannt zu haben und stromerten den ganzen Tag herum. Geld hatten sie genug verdient und Glück obendrein. Der gemauerte Kaminofen stand noch, den mussten sie nur reinigen und ein neues Ofenrohr anbringen. So bauten sie das Haus quasi um den Ofen herum. Sie benötigten jetzt ein paar Zimmer mehr, Wilbur und Melissa brauchten ein eigenes Schlafzimmer mit einem kleinen angrenzenden Raum für das Baby. Am Ende hatte das neue Haus zwei Etagen, Dorran war sehr zufrieden damit. Ende September konnten sie einziehen, es sah natürlich anders aus als früher, aber sie hatten sich auch geändert in den fast zwei Jahren, in denen sie fort gewesen waren.
An Weihnachten, Melissa war hochschwanger und das Kind wurde stündlich erwartet, gab es wieder eine Gans. Alle schwelgten in Erinnerungen, und es wurde ein schöner Abend. Man lag schon im Bett, als bei Melissa die Wehen einsetzten, es ging rasend schnell, keine zwei Stunden später gebar sie eine gesunde Tochter. Wilbur hatte Tränen in den Augen, als er seine Tochter das erste Mal in den Arm nahm, sie kam ihm unglaublich winzig vor.
Sie nannten sie Christine, weil sie an Weihnachten das Licht der Welt erblickt hatte und im Januar war die Taufe. Christine Simone Wagner, so wurde sie getauft, was bei Simone eine Menge Freudentränen hervorrief. Melissa umarmte sie. „Du warst mir immer eine Mutter, meine eigene ist so früh gestorben. Ich bin so froh, dass Du in unser Leben gekommen bist. Es ist mir ein Bedürfnis.“ Simone freute sich über Melissas Worte, liebte sie doch alle diese Kinder sehr. Aus irgendeinem Grund war sie nie mit eigenen Kindern gesegnet und hatte stattdessen ihre Mutterliebe über Melissa und ihren Geschwistern ausgebreitet.
Sie hatten in aller Eile auch eine Scheune für die Pferde und die Ziege gebaut, in die die Hunde jetzt verbannt wurden. Aber nur ganz genau einen Tag, dann fragte Melissa nach ihnen, sie wolle den Hunden ihre Tochter vorstellen, damit sie sich an deren Geruch gewöhnen. Bella und besonders ihre Lieblinge, die Hunde waren überglücklich wieder vereint zu sein. Danach war alles beim Alten. Die Hunde bewachten das Baby und den ganzen Tag kamen die einzelnen Familienmitglieder vorbei und das Mädchen auf den Arm zu nehmen oder ihr über das Köpfchen zu streichen. Die kleine Christine hatte viele Arme, die sie umfingen, sie wuchs und gedieh.
Im nächsten Frühjahr bauten sie eine Schmiede, Hammer und Amboss hatte Wilbur die ganze Zeit mitgeschleppt, der Rest war nicht mehr so teuer. Melissa begann wieder mit dem Malen, wenngleich sie noch keine Aufträge erhalten hatte. Beide würden bleiben, auch wenn die Familie sich entschließen sollte, weiter zu ziehen. Zumindest bis Christine ein paar Jahre alt war. Aber niemand hatte im Moment die Absicht zu gehen, sie richteten sich ihr Leben in Kirchberg wieder ein, konnten sogar zum Teil wieder ihre alten Arbeitsstellen erhalten. Daniel zum Beispiel wurde vom Schwanenwirt mit offenen Armen empfangen und der zahlte anstandslos fünfundzwanzig Wertsteine die Woche. Simone konnte nicht wieder unterrichten, es wohnte inzwischen eine neue Lehrerin in der Schule, aber sie gab sporadisch Privatstunden.
Diana, jetzt fast siebzehn, machte ihr Talent für Handarbeiten zum Beruf. Erst fragte sie überall nach Arbeit herum, aber nach einer Weile kamen die Leute aus Kirchberg von selbst. Sie lieferte nur hochwertige Strickwaren, Spitzen oder Kittel ab. Das sprach sich herum. Aber der Publikumsverkehr machte auch eine Menge Dreck und Wirbel, außerdem war überall Wolle oder Stoff im Haus verteilt. Im August nahmen sie deshalb ihre Bautätigkeit wieder auf und bauten eine Hütte aus Baumstämmen mit zwei Räumen. Sie mauerten einen Ofen und Diana zog mit ihren Erzeugnissen dort ein. Im Hinterzimmer schlief sie und vorne arbeitete sie. Die Leute aus Kirchberg hatten nun eine andere Anlaufstelle und im Haus wurde es wieder ruhiger.
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