Es war an einem der Fußballabende im Wohnheim, als Pierre und ich mit einer ganzen Meute von Leuten in der Heimbar saßen, um das Spiel anzuschauen. Ich war nicht nur gekommen, weil Pierre da war, sondern weil mich Fußball schon immer interessierte. Die Stimmung war sehr gut. Da ich eines der wenigen Mädchen war, fiel ich den Jungs natürlich auf. Einer von ihnen, der neben mir saß, wartete, bis Pierre zu Laurent rüberging, um ein Gespräch mit mir anzufangen: „Hi“, sagte er, „ich bin Sascha. Wie kommt’s, dass Du Fußball guckst?“ Wir waren uns auf Anhieb sympathisch und unterhielten uns prima. Zuerst bekam Pierre davon gar nichts mit. Im Allgemeinen vermied er es, vor den anderen zu zeigen, dass wir zusammen waren und hielt sich dementsprechend selten in meiner Nähe auf, wenn wir mit anderen unterwegs waren. Ich betrachtete diese Tatsache als Bestandteil unserer unausgesprochenen Vereinbarung, dass wir zusammen waren ohne wirklich ein Paar zu sein. Es machte mir mittlerweile auch viel weniger aus als am Anfang. Immerhin hatte das an diesem Abend zum Beispiel den Vorteil, dass ich mich ungestört mit Sascha unterhalten konnte. Doch plötzlich schien sich Pierre wieder an mich zu erinnern und schaute von dort, wo er mit Laurent zusammen stand, zu mir herüber. Als er sah, wie vertieft Sascha und ich ins Gespräch waren und dabei sogar das Fußballspiel völlig vergessen hatten, kam er plötzlich mit einem Satz zu uns herüber und legte besitzergreifend den Arm um mich. „Hallo.“ begrüßte Sascha ihn freundlich und sah amüsiert auf den Arm auf meiner Schulter. „Ich kenne Dich. Du wohnst auf meinem Flur.“ Eigentlich verstanden sich die beiden auch recht gut, aber es war von Anfang an zu spüren, dass Pierre mein herzlicher Kontakt zu Sascha missfiel. Seine Eifersucht gefiel mir, wenn sie auch mehr als unbegründet war, denn Sascha hatte mir längst von seiner Freundin erzählt, mit der er schon über zwei Jahre zusammen war. Das sagte ich auch zu Pierre, als wir später auf meinem Zimmer waren und er erneut keinen Hehl daraus machte, dass er eifersüchtig war. „Wenn Sascha nicht eine Freundin hätte, würde er es garantiert bei Dir versuchen. Davon bin ich überzeugt!“ Ich musste lächeln. War er vielleicht doch auf dem besten Wege mehr Gefühle für mich zu entwickeln, als er es ursprünglich vorgehabt hatte? Tatsache war jedenfalls, dass er Sascha auf dem Kieker hatte und es nur äußerst ungern sah, dass wir es uns zur Regel machten, uns einmal die Woche zum Plaudern zu treffen, und daraus eine immer engere Freundschaft zwischen uns entstand. Mir tat diese Freundschaft in dem ganzen Gefühlsdurcheinander mit Pierre und Anke total gut. Mit Sascha konnte ich über alles reden, über meine Beziehung mit Pierre, über den Unistreß, über Fußball, über Musik, einfach über alles. Ich wusste, dass er für mich da war, wenn ich Probleme hatte und umgekehrt. Unsere Freundschaft war aufrichtig und ehrlich.
Als Pierre und ich ungefähr einen Monat zusammen waren und ich mal wieder übers Wochenende zu meinen Eltern fahren wollte, fragte ich ihn, ob er mitkommen wollte. In unserer Familie war es nichts Außergewöhnliches, jemanden mit nach Hause zu bringen, ob es nun ein einfacher Freund war oder mehr. Bei Pierre war das anders. Mit seinen Eltern redete er nie über irgendwelche Beziehungen abgesehen davon, dass er noch nie eine richtig feste gehabt hatte. Deshalb war seine erste Reaktion eher zurückhaltend. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, nach so kurzer Zeit meinen Eltern vorgestellt zu werden, ja sogar ein ganzes Wochenende dort zu verbringen. Für ihn war das, als ob damit der erste Schritt in Richtung feste Bindung, Hochzeit und so weiter eingeläutet würde. Eine solche Perspektive hatte aber für ihn nie zur Debatte gestanden. Wir hatten zwar seit unserer ersten Nacht nie wieder über seinen Traum mit Stéphanie gesprochen, aber ich wusste, dass sich an seiner Einstellung nichts geändert hatte. Und so lange sich an dieser Einstellung nichts änderte, würden sich für uns beide auch keinerlei Zukunftsperspektiven ergeben. Deshalb war für ihn die Idee, meine Eltern kennen zulernen nicht sehr logisch. Wäre da nicht seine Reise- und Entdeckungslust gewesen, hätte er die Idee, mit mir nach Hause zu kommen, sofort mit einem Handschlag von sich gewiesen und nie wieder zur Sprache gebracht. So aber war er hin- und hergerissen zwischen der Vernunft, unsere Beziehung nicht über eine gewisse Grenze gehen zu lassen, weil er mir darüber hinaus nichts versprechen konnte und wollte, und der Neugierde, die geweckt war, weil er die Gegend, in der meine Eltern lebten, noch nicht kannte.
Ich ließ ihm so viel Bedenkzeit, wie er wollte, und schließlich entschied er sich doch FÜR das Wochenende mit mir, nachdem er sich mehrere Male vergewissert hatte, dass meine Eltern deswegen nicht gleich das Aufgebot bestellen würden...
Lisa klappte seufzend das Tagebuch zu. Es war mal wieder Zeit, das Licht auszumachen. Hoffentlich würde sie morgen wieder einen Moment finden, um weiterzulesen. Diese Geschichte war ja richtig spannend! Merkwürdig, dass ihre Omi nie etwas davon erzählt hatte. Sie als Omi würde ihren Enkeln später sicher alle spannenden Geschichten aus ihrem Leben erzählen! Sie legte das Tagebuch wieder in das Rucksack-Versteck und knipste die Lampe aus. Sie stellte sich ihre Omi in jungen Jahren vor. Bestimmt hatte sie irgendwann schon mal alte Fotoalben mit ihr angeschaut, aber richtig erinnern konnte sie sich nicht mehr. Sie würde gleich morgen danach fragen!
14
Annabel drehte sich zum x-ten Mal von der einen auf die andere Seite. In der ersten Nacht hatte sie in dem großen, breiten Bett wie ein Murmeltier geschlafen. Doch heute war sie an der Reihe, sich mit dem kleinen, engen Sofa zu begnügen. Sie selbst hatte darauf bestanden, obwohl Simon ihr zig Mal erklärt hatte, dass es ihm nichts ausmachen würde, die ganze Woche auf der Couch zu schlafen. Vielleicht hätte sie doch auf ihn hören sollen, denn so wie es im Moment aussah, würde sie die ganze Nacht kein Auge zudrücken.
Simon hörte, wie Annabel vergeblich versuchte, eine einigermaßen komfortable Schlafstellung auf der kleinen Sitzcouch zu finden. Er selbst hatte die letzte Nacht gerade mal zwei Stunden fest geschlafen, und das eigentlich nur vor Erschöpfung. Den Rest der Zeit hatte er damit zugebracht, seine Beine krampfhaft irgendwie davor zu bewahren, nicht auf den Boden abzurutschen! Im Grunde genommen war es wirklich völlig idiotisch, nicht das überdimensional große Bett miteinander zu teilen und sich stattdessen im Wechsel mit der Couch abzuquälen! Er würde ihr schon nichts tun! Und das Bett war breit genug, um sich nicht ungewollt in die Quere zu kommen.
Annabel war kurz davor aufzustehen und sich klammheimlich an den äußeren Rand des Bettes zu legen, auf die entgegengesetzte Seite von Simon. Vom Platz her bestünde eigentlich keine Gefahr, dass sie sich berührten. Es sei denn, Simon würde sich im Traum unbewusst von der einen Ecke des Bettes in die andere rollen. Aber das Risiko war es ihr fast wert... „Simon?“ flüsterte sie. Wenn er noch nicht schlief, konnte sie ihn ja auch fragen, ob es ihm nichts ausmachen würde, doch das Bett miteinander zu teilen. Dann wüsste er wenigstens, dass er schön brav auf seiner Seite zu bleiben hatte!
Simon zögerte. Sollte er antworten oder so tun, als ob er schlief? Er war sich fast sicher, dass sie früher oder später schwach werden und von der Couch auf das Bett wechseln würde. Wie gerne würde er ihr einen kleinen Schrecken einjagen, so wie er es früher nachts oft getan hatte, wenn sie mit Freunden unterwegs waren. Aber wäre das in der aktuellen Situation angebracht? Würde sie genauso cool wie damals darauf reagieren, ihn einfach nur mit einem Knuff in die Seite und einer Trachtprügel mit dem Kissen bestrafen, bevor sie lachend nebeneinander liegen bleiben und bis in die Morgenstunden diskutieren würden?
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