„Hast Du meinen Brief gelesen?“ Ich hasste nichts mehr, als lange um den heißen Brei zu reden. „Ja.“ Mehr nicht, einfach Totenstille. „Und?“ „Ich weiß nicht.“ „Du warst bei Anke am Wochenende. Warum?“ Ich schluckte, damit die aufkommenden Tränen nicht doch noch triumphierten. „Ich wollte wissen, was sie für mich empfindet. Aber ihr Freund war da. Ich weiß, dass sie ihn nicht liebt. Das hat man gesehen.“ Ich sagte nichts. Ich fühlte mich merkwürdig leer. Ich spürte, dass es keinen Sinn machen würde, irgendetwas zu erwidern. Ich spürte, dass alles einfach so kommen würde, wie es musste. „Setz Dich.“ sagte er und zeigte auf sein Bett. „Ich muss Dir jetzt etwas erzählen, was mir sehr wichtig ist.“ Ein Teil in mir hätte am liebsten gesagt: „Lass mich in Ruhe. Ich will nichts mehr hören.“ Aber ein anderer Teil trieb mich wie durch eine unsichtbare Kraft an, mich zu setzen und ihm zuzuhören.
Er begann von seiner Kindheit zu erzählen. Und von einem Mädchen, dass er schon kannte, seitdem er ein ganz kleiner Junge gewesen war. Sie waren Nachbarn gewesen. Schon immer. Und seit er denken konnte, war er davon überzeugt gewesen, dieses Mädchen eines Tages zu heiraten. Der kleine Junge hatte sich ein Leben lang eingeredet, dass sie füreinander geschaffen waren, und der junge Mann, der er mittlerweile war, glaubte weiterhin an diese Fügung des Schicksals. Er beschrieb sie in den schillerndsten Farben und den höchsten Tönen. Jedes Wort von ihm über sie tat mir in der Seele weh. Je länger und ausführlicher er erzählte, desto mehr hätte ich am liebsten laut geschrien, dass er endlich aufhören sollte. Es tat so verdammt weh! Aber ich schrie nicht. Ich hörte weiter zu und ließ die Tränen leise meine Wangen hinunter laufen. Er sagte, es wäre wie ein Traum, den er nicht vergessen konnte. Es war nie mehr zwischen ihnen gewesen als nachbarschaftliche Freundschaft, aber das hatte für ihn keine Bedeutung. Im Gegenteil, er wollte gar nicht mit ihr zusammen sein, noch nicht. Er wollte den richtigen Moment abwarten und sie dann einfach heiraten, wie in seinem Traum, den er seit seiner Kindheit mit sich herumtrug und behütete wie seinen Augapfel. Er sagte, er sei nie eifersüchtig gewesen, wenn sie einen Freund gehabt hatte. Weil er wusste, dass irgendwann ihre gemeinsame Zeit kommen würde. Er schrieb ihr regelmäßig Liebesbriefe und besuchte sie jedes Jahr an Weihnachten, wenn sie beide daheim bei ihren Eltern waren. Ich sah ihn durch meinen Tränenschleier an und flüsterte: „Und sie, was sagt sie dazu?“ Er zögerte einen Moment. „Sie weiß von meinem Traum, von meinen Gefühlen. Ich habe sie ihr nie verheimlicht. Anfangs hat sie sich davon geschmeichelt gefühlt, danach ist sie eine Zeitlang sehr wütend auf mich gewesen und hat mir verboten, ihr zu schreiben und sie zu besuchen. Aber vor kurzem haben wir uns zufällig wieder getroffen und sie war einverstanden, unsere Freundschaft wieder aufzunehmen, wenn ich mit dem „Unsinn“ von früher aufhöre. Seitdem habe ich ihr nur noch ganz normale, freundschaftliche Briefe geschrieben. Das heißt, bis vor kurzem. Da habe ich dann doch wieder damit angefangen. Ich habe ihr geschrieben, dass ich sie heiraten will, aber sie hat mir nicht darauf geantwortet. Noch nicht.“ Er machte eine Pause und sah kurz zu mir rüber. „Weißt Du“, fuhr er fort, „Du bist die einzige, der ich diese Geschichte bisher erzählt habe. Ich war noch nicht mit vielen Mädchen zusammen. Und ich hatte noch nie eine ernsthafte, lange Beziehung. Sie war der Grund dafür. Ich kann mich in niemand anderen verlieben. Ich kann vielleicht mit jemand anderem zusammen sein, aber ich kann mich nicht verlieben, weil ich eines Tages Stéphanie heiraten werde. Verstehst Du das?“ Am liebsten hätte ich gesagt, dass er völlig verrückt war und dass das alles nur Blödsinn sei, Kinderträume, Spinnerei! Doch tief in meinem Inneren konnte ich ihn verstehen. Auch ich war eine Träumerin. Auch ich hatte mich schon in Traumwelten geflüchtet, die sonst keiner nachvollziehen konnte. Aber bei all meinem Verständnis überwiegte ein anderes Gefühl noch viel mehr: der Schmerz. Es tat weh, dass er diese Gefühle nicht für mich hatte. Es tat weh, dass diese Geschichte ihn für mich noch unerreichbarer machte als ohnehin schon. Eine Weile sagten wir gar nichts mehr. Meine Tränen waren mittlerweile versiegt, als ich tonlos fragte: „Und Anke?“ „Ich weiß auch nicht, ich fühle mich merkwürdig von ihr angezogen. Aber ich weiß, dass es rein körperlich ist.“ ,Und bei mir?’ hätte ich am liebsten hinzugefügt. Doch ich konnte mir die Antwort denken. Wir waren Freunde. Wir verstanden uns prima. Ich war diejenige, der er solche Geschichten wie mit Stéphanie erzählen konnte. Vielleicht sollte ich mich einfach damit zufrieden geben. Vielleicht sollte ich sogar froh darüber sein. Was würde es mir bringen, mit ihm zusammen zu sein mit der Gewissheit, dass er bereits eine andere liebte, eine andere heiraten wollte? Und außerdem war da auch noch Anke, von der er sich unweigerlich angezogen fühlte. Wo sollte da überhaupt noch Platz für mich sein? Es war wirklich besser so. Kurz und schmerzlos. Schmerzlos... nein, es war alles andere als schmerzlos. Er hatte in kürzester Zeit und völlig unbewusst mein Herz mit Beschlag belegt, und es würde verdammt weh tun, es mir wieder zurückzuholen... Deshalb schaffte ich es auch nicht, einfach aufzustehen und zu gehen. Deshalb musste ich ihm noch diese eine letzte Frage stellen: „Und was empfindest Du für mich?“ Er sah mich lange an und sagte nichts. Dann rückte er näher an mich heran, zog mich in seine Arme und antwortete: „Ich weiß nicht, was ich empfinde, aber ich weiß, was ich will!“
Als ich am nächsten Morgen nach einer kurzen Nacht neben ihm aufwachte, war ich glücklich. Ich wusste, dass es dafür wenig Grund gab nach allem, was er mir gestern erzählt hatte, aber ich war naiv und wollte einfach glauben, dass ich den ersten erfolgreichen Schritt auf einem langen, steinigen Weg geschafft hatte. Dem Weg zu seinem Herzen.
Ich ließ es mir nicht nehmen, Anke an der Uni sofort zu erzählen, dass Pierre und ich die Nacht zusammen verbracht hatten und wie es dazu gekommen war. Es war eine gewisse Genugtuung für mich, das konnte ich nicht leugnen. Den Teil mit seinen Gefühlen für sie und der Geschichte mit Stéphanie ließ ich natürlich weg. Sie schien... fast überrascht. Vielleicht sogar leicht enttäuscht. Allerdings nur einen kurzen Moment, dann fasste sie sich wieder und setzte ihr unschuldiges Lächeln auf.
Wenn ich ganz ehrlich war, wusste ich nicht genau, wie es weitergehen sollte. Aber ich war ganz fest davon überzeugt, dass es nicht bei dieser einen Nacht bleiben würde. Und ich behielt recht. Wir sahen uns noch häufiger als vorher und verbrachten regelmäßig die Nächte zusammen. Ich war glücklich, einfach nur glücklich und nichts anderes zählte mehr für mich als unsere Momente zu zweit. Der Rest war vergessen. Alles, was vorher geschehen war und auch alles, was sich abspielte, wenn wir uns hin und wieder zu dritt trafen und die beiden sich weiterhin Blicke zuwarfen, die mehr als nur freundschaftlich waren. Ich sah einfach nicht hin, wollte es nicht sehen. Ignorierte es geflissentlich, weil ich Pierre nicht verlieren wollte. Und weil ich die Freundschaft zu Anke nicht verlieren wollte. Denn diese Freundschaft war das einzige, was ich im Moment hatte außer Pierre.
Pierre sagte mir nie, dass er mich liebte. Noch nicht einmal, dass er mich gern hatte. Er schlief mit mir und genoss es, dass ich ihn mit Liebesschwüren überhäufte. Für ihn war die Sache klar: Er hatte mir von Anfang an gesagt, woran ich bei ihm war, und dass ich nicht mehr von ihm zu erwarten hatte als die gemeinsamen Stunden zu zweit. Und ich hatte mich darauf eingelassen.
Die Zeit verging und ich begann, weitere Bekanntschaften zu schließen. Die Beziehung zu Pierre, so wackelig sie auch war, hatte mir Selbstvertrauen gegeben und ich spürte gleichzeitig das dringende Bedürfnis, Alternativen zu meiner Freundschaft zu Anke zu finden. Unter anderem auch deshalb, weil sie immer noch so gesprächig wie ein Mönch mit Schweigegelübde war und ich das ganze Gegenteil davon. Ich brauchte Leuten, die genauso gerne plauderten wie ich, wenigstens hin und wieder...
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