Nein, sie würde es nicht übers Herz bringen, Lisa die Wahrheit zu sagen. Nicht gleich zumindest. Und schon gar nicht am Telefon. Natürlich hatte sie sich immer geschworen, ihre Tochter nie anzulügen. Aber es gab Situationen, in denen man einfach keine Wahl hatte, auch wenn sie genau wusste, dass die Geheimnistuerei nicht gut gehen konnte. Dass am Ende die Wahrheit doch ans Licht käme. Und dass sie dann ihrer Tochter zu allem Übel auch noch erklären müssen würde, warum sie sie belogen hatte...
Gerade als Annabel überlegte, wie sie ihren Entschluss, Lisa erst mal keinen reinen Wein einzuschenken, ihrem Mann mitteilen sollte, ertönte die Melodie ihres Handys, die ihr eine SMS ankündigte: „Werde Lisa morgen anrufen und sagen, dass ich kurzfristig für längere Zeit auf Geschäftsreise musste und deshalb eure Überraschungsidee nicht annehmen konnte. Ist das ok für dich?“ „Na, wenn das kein Zufall ist!“ murmelte sie verbittert. Aber da der Vorschlag ihrer eigenen Entscheidung entgegen kam, schickte sie Harald ein kurzes SMS zurück: „Ok. Sag mir bitte kurz Bescheid, wenn du sie angerufen hast. P.S.: Fliege morgen trotzdem nach Madeira.“
11
Als Annabel am nächsten Morgen vom Wecker wach geklingelt wurde, brauchte sie erst einmal ein paar Minuten, um sich klar zu werden, wo sie war und was gestern passiert war. Alleine aufzuwachen war nichts Neues für sie. Allzu oft war Harald auf Geschäftsreise gewesen und hatte sie tage-, ja manchmal sogar wochenlang mit Lisa alleine gelassen. Die Gewissheit allerdings, dass er sie betrogen hatte, weg und höchstwahrscheinlich genau in diesem Moment bei der anderen war, und nichts mehr so sein würde wie früher, das war etwas, das neu war für Annabel. Neu und sehr schmerzhaft. Sie fühlte sich wie nach einer durchgezechten Nacht, dabei hatte sie nicht mal das Glas Wein ausgetrunken, das sie sich für ihr Candlelight-Dinner eingeschenkt hatte!
Lustlos wälzte sie sich aus dem Bett. Wenn sie nicht zu spät zum Flughafen kommen wollte, musste sie sich beeilen. Doch irgendwie fehlte ihr für alles und jedes die Kraft. Sie kannte dieses Gefühl von früher. Von der Zeit vor Harald, als sie sich während ihres Studiums immer wieder in die falschen Typen verliebt hatte und sie immer wieder aufs Neue enttäuscht wurde. Wie oft hatte Simon ihr damals den Trennungsschmerz erleichtert, indem er für sie da war, ihr zuhörte, sie sich an seiner Schulter ausweinen ließ oder aber sie mit seinen Späßchen mir nichts dir nichts wieder zum Lachen brachte.
Auch heute war in gewisser Weise er es, der ihr den nötigen Auftrieb gab, um sich nicht ganz hängen zu lassen. Hätte er ihr gestern Nacht nicht mir nichts dir nichts zugesagt, anstelle von Harald mit ihr nach Madeira zu fliegen, hätte sie nicht nur das Geld für eine Woche Urlaub verloren, sondern sie wäre mit Sicherheit direkt beim Aufwachen in einen Teufelskreislauf aus Selbstmitleid und Selbstvorwürfen gefallen, aus dem sie so schnell keinen Ausweg gefunden hätte.
So aber blieb ihr gar keine Zeit, über ihr verlorenes Glück mit Harald nachzudenken. Sie musste noch die letzten Sachen einpacken, das Haus auf Vordermann bringen und sich um ein Taxi kümmern. Erst als sie die Tür hinter sich schloss und in das Auto stieg, das vor ihrer Tür wartete, kehrte das Gefühl der Einsamkeit und des Verlassenwerdenseins, das sie schon beim Aufwachen überkommen hatte und das so unzertrennlich mit jeder schmerzhaften Trennung verbunden war, zurück. Sie kam nicht umhin, sich zu sagen, dass sie jetzt eigentlich mit Harald in diesem Taxi auf dem Weg zum Flughafen sitzen müsste. Dass sie gestern um die Zeit noch so glücklich gewesen war bei der Idee, ihn überraschen zu können. Dass es verdammt noch mal nicht fair war, dass sie nun ihr ganzes Leben wieder von vorne aufbauen, die Strapazen einer Scheidung auf sich nehmen und dabei ihre Tochter so gut wie möglich außen vor lassen musste! Warum hatte er ihr das angetan? Warum? Natürlich wusste sie, dass sie nicht die erste war und auch nicht die letzte sein würde, die durch diese Hölle ging. Aber verdammt noch mal, womit hatte sie das verdient?!
Der Taxifahrer warf ihr einen mitleidigen Blick zu, weil sie zum x-ten Mal versuchte, die Tränen von den geschminkten Augen zu tupfen, ohne dass ihr die ganze Wimperntusche übers Gesicht lief. So sehr sie sich auch bemühte, sie schaffte es einfach nicht, den Tränenfluss zu stoppen. Erst als das Flughafengebäude in Sicht kam, zwang sie sich, den Kloß im Hals endgültig hinunter zu schlucken, weil sie Simon nicht mit verheulten Augen gegenüber treten wollte. Natürlich hätte er es verstanden und sie sofort getröstet, aber wenn sie sich nicht ein wenig besser in den Griff bekam, würde sie die ganze Woche über nur Rotz und Wasser heulen. Und das war dieser Scheißkerl, der sich ihr Ehemann nannte, wirklich nicht wert!
Simon wartete bereits am Eincheckschalter. Schon von weitem hatte sie ihn wieder erkannt, doch sie gab ihm bewusst kein Zeichen, damit sie den Moment des Wiedersehens und die Vorfreude darauf noch ein wenig hinauszögern konnte. Annabel wusste, dass sie sich im Gegensatz zu ihm verändert hatte. Sie trug ihr Haar nicht mehr so kurz wie beim letzten Mal, als sie sich gesehen hatten, und seit ihrer Schwangerschaft mit Lisa hatte sie die überschüssigen Pfunde nie wieder ganz verloren. Als sie nur noch ein paar Schritte von ihm entfernt war, stellte sie ihren Koffer ab und sah ihm eine Weile zu, wie er mit der Dame am Schalter flirtete. „Simon?“ sagte sie dann zaghaft. Er drehte sich um und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Annabel!“ Er kam auf sie zu und drückte sie fest an sich. „Ich freu mich dich zu sehen!“ „Ich mich auch, Simon!“
Pünktlich um zehn hob die Maschine nach Madeira ab. Simon hatte sofort gesehen, dass Annabel geweint hatte, und alles daran gesetzt, ihr zum weiteren Trübsalblasen keine Zeit zu lassen. Er erzählte unaufhörlich Anekdoten aus seinem Leben als Berufsschullehrer. Am Anfang lachte er noch alleine darüber, doch mit der Zeit taute Annabel mehr und mehr auf, vergaß ihren Kummer für die Zeit des Fluges und stimmte herzhaft in sein Lachen mit ein.
Als sie im Hotel auf Madeira ankamen, versuchte Annabel vergeblich, aus dem reservierten Doppelzimmer zwei Einzelzimmer zu machen. Selbst gegen Aufpreis war nichts zu machen gewesen. Das Hotel war komplett ausgebucht, so dass sie nicht umhin kamen, sich ein Zimmer teilen zu müssen. Großzügig bot Simon an, auf der Sitzcouch neben dem Fernseher zu schlafen. Annabel antwortete daraufhin, dass sie sich abwechseln würden: eine Nacht sie, eine Nacht er, damit jeder mal in den Genuss des großen, breiten Bettes kam. „Okay, Partner.“ sagte Simon und zwinkerte ihr zu. „Aber vielleicht wird das gar nicht lange nötig sein, wenn ich erst mal auf die Pirsch gegangen bin und eine einsame Lady aufgerissen habe, die mich den Rest der Woche bei sich einquartieren wird.“
Annabel musste grinsen. „Du bist also immer noch Single und immer noch derselbe Charmeur wie damals.“ schmunzelte sie. Er legte sein Casanova-Lächeln auf und meinte theatralisch: „Yeah, Baby, mir kann keine widerstehen!“ Sie lachte. „Keine außer mir, weil du mir alle deine Schandtaten und Aufreißtricks anvertraut hast. Ich wusste, was mich erwartet hätte, wenn ich deinem Charme erlegen wäre! Deshalb habe ich der Versuchung nie nachgegeben!“ Simon kam mit schnellen Schritten auf sie zu, riss sie herum, als würde er Tango mit ihr tanzen, verstellte seine Stimme zu einem tiefen Bariton und meinte: „Das ist alles nur eine Frage der Zeit, Süße!“
Einen Moment lang verharrten sie in dieser Stellung und das Lachen, das er bei ihr ausgelöst hatte, verstarb langsam. Sie spürte, wie ihr Herz begann schneller zu schlagen und eine Sekunde lang glaubte sie, er würde sie in seine Arme ziehen und küssen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie genau davor Angst gehabt, als Simon ihr gestern so spontan zugesagt hatte. Die Zeit des Studiums war lange her. Sie waren nicht mehr die zwei Studenten, die die besten Kumpels der Welt waren. Sie waren beide erwachsene Menschen. Und Simon war ein sehr einfühlsamer und attraktiver Mann. Der Mangel an Zärtlichkeiten mit Harald in den letzten Monaten und sein Geständnis, eine andere zu haben, hatten Annabel so zugesetzt, dass sie durchaus in der Lage gewesen wäre, sich einfach in Simons Arme fallen zu lassen! Freundschaft hin oder her!
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