1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 Annabel versuchte Ordnung in ihren Kopf zu bringen. Ihre Gedanken überstürzten sich. Drehten sich im Kreis. Sie hätte jetzt etwas sagen sollen. Hätte vielleicht Fragen stellen sollen, um das alles besser zu verstehen. Wer war die andere und wo hatte er sie kennen gelernt? Seit wann genau ging das schon so? Ach nein, das hatte er ja schon erwähnt. Vier Monate. Sie versuchte, sich ihrer Gefühle klar zu werden, doch das einzige, was ihren Verstand mit Beschlag belegte, war das Wörtchen „wollte“! Harald war nicht dabei, sich zu entschuldigen, versuchte nicht einen Fehler wieder rückgängig zu machen. Er bat sie nicht, ihm zu verzeihen, um wieder ganz neu mit ihr anzufangen. Er hatte gesagt „Ich wollte, dass wir weiterhin eine glückliche Familie sind!“. Ich wollte – nicht: Ich will! Das war eindeutig die Vergangenheitsform!
„Was soll das heißen ‚wollte’?“ sprach Annabel ihren Gedanken laut aus. Sie musste sich einfach Klarheit verschaffen, auch wenn es noch viel mehr weh tun würde als allein schon die Tatsache, betrogen worden zu sein. Harald sah kurz zu ihr hin. Er sah unentschlossen aus. Dann stand er auf, ging quer durchs Zimmer zum Fenster und blieb dort mit verschränkten Armen stehen. Er schien zu überlegen. Wollte die richtigen Worte finden, wenn das in einer solchen Situation überhaupt möglich war. „Ich...“ begann er dann erneut und drehte sich langsam zu ihr um. „Annabel, ich würde dir so gerne sagen, das es einfach nur eine Affäre ist, eine Affäre war! Aber das kann ich nicht.“ Er machte eine Pause, als wolle er die Worte wirken lassen. „Weil es gelogen wäre!“ beendete er den Satz und stieß einen Seufzer aus.
Annabels Augen füllten sich mit Tränen. Was erzählte er ihr da überhaupt? Sie kam sich vor, wie in einem schlechten Film. „Wenn Lisa nicht wäre,“ fuhr er fort, „dann hätte ich schon längst...“ Da platzte Annabel der Kragen: das war einfach zu viel des Guten! „Du Mistkerl!“ schrie sie. „Und ich hab mir die ganze Zeit über die Augen ausgeweint, weil ich dachte, es sei alles meine Schuld, dass wir in letzter Zeit so viel streiten. Meine Schuld, weil ich nicht mehr arbeite und du allein für uns aufkommen musst. Gegrübelt, wie ich dir helfen könnte, damit du nicht mehr so viel Überstunden machen musst! Mir Vorwürfe gemacht und alle möglichen Alternativen gesucht, die uns aus dieser Sackgasse wieder hinausbringen könnten! Wie oft saß ich abends da und hab auf dich gewartet und mir gesagt, wie glücklich ich mich schätzen kann, einen Mann zu haben, der sich so für seine Familie aufopfert. Der alles tut, bis in die Puppen arbeitet, um uns ein angenehmes Leben zu bescheren. Ich dachte, der Stress sei schuld an deiner ständigen Gereiztheit und an unseren Streitereien! Pah! Kein Wunder, dass ich nicht mehr an dich herankam! Du warst ausgelaugt, weil die andere dich nach Feierabend regelmäßig auf Trab gehalten hat! Was hätte ich da noch ausrichten können? Und ich war so naiv zu glauben, dass du das alles nur zum Wohl der Familie getan hast. Wie oft habe ich mir auf die Zunge gebissen, weil ich mir sagte, dass es ungerecht von mir wäre, dir immer wieder vorzuhalten, dass du viel zu spät nach Hause kommst! Mein Gott, wie blöd ich war!“
Sie spürte, wie ihr die Tränen immer wilder übers Gesicht liefen. Ihr war speiübel. Sie brauchte jetzt dringend frische Luft! Also ging sie kurzerhand zur Garderobe und griff nach ihrem Mantel. „Annabel!“ rief Harald ihr hinterher. „Wenn du jetzt gehst...“ Er brach mitten im Satz ab, bewusst, wie absurd eine solche Drohung seinerseits in Anbetracht der Lage war. An der Haustür drehte Annabel sich noch einmal zu ihm um. Im Gegensatz zu ihrer inneren Verfassung, klangen ihre Worte völlig ruhig: „Ich nehme an, dass du ohne Probleme einen anderen Ort zum Schlafen finden wirst. Wenn nicht, kannst du ja immer noch in ein Hotel gehen. Auf jeden Fall möchte ich dich nicht mehr sehen, wenn ich in –“ Sie sah auf die Uhr. „ - sagen wir einer halben Stunde zurückkomme. Was Lisa angeht, so möchte ich, dass sie im Moment weiterhin davon ausgeht, dass wir morgen glücklich zusammen nach Madeira fliegen werden. Ich habe ihr versprochen, sie übermorgen von dort anzurufen. Das werde ich auch tun. Alles weitere überlege ich mir bis dahin und halte dich auf dem Laufenden.“ Dann zog sie die Tür ins Schloss und trat in die kühle Nachtluft, die sie gierig in sich aufsog. Sie ging die Straße hinunter in Richtung Innenstadt.
Als Annabel eine Stunde später wieder vor der Tür ihres kleinen Eckhauses ankam, brannte nur noch das Licht in der Einfahrt. Haralds Auto stand nicht mehr auf dem Parkplatz. Er war also wirklich weg. So wie sie es von ihm verlangt hatte. Sie hatte sich die ganze letzte Stunde versucht, darüber klar zu werden, was sie empfand. Außer einer gähnenden Leere hatte sie nichts gefunden. Ja, sie fühlte sich leer. Ausgelaugt und leer. Und unglaublich naiv. Wie hatte sie sich nur so sehr von ihm ins Bockshorn jagen lassen können? Dabei war ihr der Gedanke, er könne fremd gehen, durchaus schon gekommen. Doch sie hatte ihn immer erfolgreich verdrängen können. So sehr, dass sie seit Lisas Vorschlag mit der romantischen Reise zu zweit tatsächlich wieder davon überzeugt war, dass alles nur eine Frage der Zeit war. Der Zeit, die ihr Mann, wie sie geglaubt hatte, zu sehr in die Arbeit steckte. Der Zeit, die sie sich schon so lange nicht mehr für sie beide genommen hatten. Der Zeit, die sie eine Woche gemeinsam auf Madeira hätten, und nach der sie wieder genauso glücklich wie vorher zurückkommen würden.
So sehr konnte man sich täuschen! So sehr konnte man sich selbst etwas vormachen! Sie schloss die Haustür auf. Es war merkwürdig, das Haus so still vorzufinden. So ganz allein zu sein. Natürlich hatte sie oft schon Abende allein verbracht, aber nie war sie im Haus ganz allein gewesen. Lisa war da gewesen. Und ihr Mann war auch immer irgendwann gekommen. Wenn auch spät, aber gekommen war er immer. Allein der Gedanke daran, wie er sich all die Abende mit der anderen vergnügt hatte, während sie sich Stunde um Stunde mehr um ihn gesorgt hatte. Jedes Mal. Jeden Abend. Seit vier Monaten! Allein der Gedanke daran, machte sie wütend! Sie war nicht so sehr verletzt als vielmehr wütend!
Doch dann ging sie ins Wohnzimmer und sah den noch immer gedeckten Tisch. Der Umschlag lag noch da, wo er ihn hatte fallen lassen. Er war weg. Es war vorbei. Langsam ging sie weiter ins Schlafzimmer. Der Koffer, den sie für Madeira gepackt hatte, stand unangerührt vor dem Bett. Ein zweiter Koffer fehlte. Er musste ein paar Sachen gepackt und mitgenommen haben. Wahrscheinlich war er jetzt schon bei ihr, bei der anderen. Vielleicht lagen sie sogar schon wieder gemeinsam im Bett... Hastig schüttelte Annabel den Kopf. Nein, nein, sie durfte nicht daran denken! Das würde ihr nur unnötig weh tun!
Aber auch ohne ihn sich mit der anderen vorzustellen, spürte sie, wie der Schmerz immer größer wurde. Sie hatte ihn verloren. Er hatte sie betrogen. Aber als wäre das nicht schon schlimm genug, hatte er sie gleich ganz ausgetauscht. Hatte sie einfach fallen gelassen. Die ganzen gemeinsamen Jahre in kürzester Zeit weggeschmissen. Als wäre es nichts. Genauso überstürzt wie er ihr damals den Heiratsantrag gemacht hatte, hatte er nun seine Geliebte zur Nummer eins gemacht. Und wenn Lisa nicht wäre, hätte er vielleicht noch nicht einmal vier Monate damit gewartet!
Sie fragte sich, wie sie wohl reagiert hätte, wenn er ihr einfach nur einen Seitensprung gestanden hätte? Hätte sie ihm verziehen? Hätte sie seine Entschuldigung akzeptiert und wieder mit ihm von vorne angefangen, als sei nichts gewesen? Sie wusste es nicht und war fast erleichtert, nicht vor dieser schweren Entscheidung gestanden zu haben. Er hatte sie ihr abgenommen, die Entscheidung, auch wenn sie es letztendlich gewesen war, die ihn gebeten hatte zu gehen. Aber hatte sie wirklich eine andere Wahl gehabt, nachdem er ihr gestanden hatte, dass es mehr als nur eine Affäre für ihn war?
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