1 ...8 9 10 12 13 14 ...23 Sie ließ sich kraftlos aufs Bett fallen und fing erneut an zu weinen. Wieso? Wieso hatte es soweit kommen müssen? Wieso hatten sie nicht vorher einen Ausweg gefunden, bevor er sich mit einer anderen eingelassen hatte? Wie gerne hätte sie jetzt mit jemandem geredet, ihr Herz ausgeschüttet. Doch der einzige, mit dem sie immer über all ihre Sorgen und Probleme geredet hatte, war ihr Vater gewesen. Und der war nun nicht mehr da. Natürlich hatte sie auch die ein oder andere Freundin, aber mit denen wollte sie darüber im Moment nicht reden. Wieso konnte sie sich auch nicht erklären, aber es war nun einmal so.
Sie drehte sich zur Seite und sah den Koffer auf dem Boden stehen. Eine Woche Madeira! Wie gerne wäre sie mal wieder in Urlaub geflogen! Wenn sie Glück hatte, würde sie vielleicht wenigstens einen Teil der Reise zurückerstattet bekommen, obwohl sie die Reisebüroangestellte heute ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass es sich um ein Lastminute-Sonderangebot handelte, das eine Stornierung ausschloss.
Sie stand auf, um die gepackten Sachen wieder in den Schrank zu räumen. Wie fröhlich war sie gewesen, als sie heute Nachmittag alles sorgfältig vorbereitet hatte, hatte sich ausgemalt, wie sie gemeinsam am Strand entlang laufen und abends gemütlich in dem kleinen, verträumten Restaurant essen würden...
Das Glücksgefühl, das sie den ganzen Tag über begleitet hatte, gemischt mit der freudigen Erwartung auf seine Reaktion, hatte einer dumpfen Ernüchterung Platz gemacht. Platz machen müssen. Sie hatte keine andere Wahl! Sie war nicht gefragt worden! All die schönen Pläne für die Zukunft, die Hoffnung, irgendwann doch noch ein zweites Baby zu bekommen, Lisa weiterhin gemeinsam heranwachsen zu sehen, all das hatte sich an einem einzigen Abend in Luft aufgelöst. Nichts würde mehr so sein wie vorher...
Lisa! Meine Güte, was sollte sie ihr bloß sagen! Wie sollte sie es ihr sagen und vor allem wann? Eigentlich hätte sie sich gleich morgen ins Auto setzen und zu ihr und ihrer Mutter fahren müssen, aber allein schon der Gedanke daran bereitete ihr ein flaues Gefühl im Magen. Außerdem war Lisa so begeistert von der Idee gewesen, ihre Omi endlich wieder auf andere, fröhlichere Gedanken zu bringen! Eine solche Nachricht würde dem Vorhaben sicherlich einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machen!
Und trotzdem! Früher oder später musste sie es ihr sagen. Da ging kein Weg dran vorbei! Warum also nicht davon profitieren, dass Lisa bei ihrer Mutter war, um dieser schwierigen Situation nicht so völlig allein ausgesetzt zu sein? Ihre Mutter würde ihr sicherlich helfen, das Richtige zu tun und zu sagen. Ja, und sie würde es sich sicherlich nicht nehmen lassen, ihr ein „Das hab ich dir doch von Anfang an gesagt!“ in Bezug auf Harald an den Kopf zu knallen. Nein, danke! Darauf konnte sie im Moment wirklich verzichten!
Sie hatte Haralds Sachen mittlerweile alle weggeräumt und wollte gerade anfangen, auch ihre Kleider zurück in den Schrank zu legen. Doch irgendwie brachte sie es nicht fertig! Sie hatte sich wirklich auf diese Reise gefreut! Allein die Idee, mal wieder richtig wegzufahren, hatte sie ihr Trübsal der letzten Wochen mit einem Schlag vergessen lassen. Es war nicht nur die Aussicht gewesen, mal wieder mit Harald zu zweit wegzufahren. Es war auch die Tatsache, nach all den Jahren seit Lisas Geburt, in denen sie immer nur höchstens zwei von den sechs Schulferienwochen zu dritt weggefahren waren und dann auch immer nur an Orte, die nicht allzu weit entfernt gewesen waren, weil Harald für seine Arbeit erreichbar bleiben musste und wollte, endlich mal wieder eine Flugreise auf eine traumhaft schöne Insel machen zu können. Sie hatte sich die ganzen letzten Tage über ausgemalt, wie es wäre, endlich wieder am Meer zu stehen und mit nackten Füssen im schäumenden Wasser der Brandung den Strand entlang zu laufen...
Zum Teufel noch mal! Wieso musste Harald ihr ausgerechnet heute Abend die ganze Wahrheit erzählen? Er hatte ihr vier Monate lang etwas vorgemacht. Hätte er damit nicht auch noch diese eine Woche warten können! Dann hätte sie wenigstens noch diese Reise mitnehmen können, wenn er ihr sonst schon nichts mehr ließ von ihren gemeinsamen Jahren! Erschöpft ließ sie den Kopf in ihre Hände sinken. Was sollte sie jetzt bloß machen?
‚Und was, wenn sie einfach alleine fliegen würde?’ schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. ‚Unsinn!’ schalt sie sich gleich selbst. Doch jetzt, da der Gedanke erst einmal aufgetaucht war, wurde sie ihn so schnell nicht wieder los. Hier zu Hause würde ihr sowieso nur die Decke auf dem Kopf fallen... Andererseits, alleine? Ganz alleine eine Woche in Urlaub fliegen? Nein, darauf hatte sie nun auch wieder keine Lust. Und wenn sie jemanden finden würde, der kurzfristig mit ihr mitkam...? Kurzfristig? Kurzfristig war gar kein Ausdruck! Wer würde schon spontan eine Woche wegfahren können, wenn der Flieger in nur ein paar Stunden abhob? Schließlich war es bereits elf Uhr abends und die Maschine war für morgen früh um 10 vorgesehen!
Doch Annabel hielt sich an dieser Idee fest wie eine Ertrinkende an einem Strohhalm. Systematisch ging sie die Liste ihrer Bekannten im Kopf durch. Die Pärchen schieden schon mal aus. Blieben die Singles oder Geschiedenen. Und wenn möglich jemand, der eher ihr nahe stand als Harald in Anbetracht der Umstände... Doch sie konnte noch so grübeln, es wollte ihr einfach niemand einfallen. Frustriert ließ sie sich zurück aufs Bett sinken und stieß einen großen Seufzer aus. „Und wenn ich mein Adressbuch von früher auskrame?“ überlegte sie laut. „Wenn die Telefonnummer nach all den Jahren überhaupt noch stimmen!“ Sie gab sich einen Ruck und stand auf. Das Adressbuch lag noch genau da, wo sie es beim letzten Umzug verstaut hatte: in der untersten Schublade ihres Schreibtisches ganz hinten. Sie schlug es auf und ging die verschiedenen Namen durch. Die meisten davon waren mit bunten Erinnerungen aus ihrer Studienzeit verbunden, die ihr ein kurzes, nostalgisches Lächeln auf die Lippen zauberten. Allerdings hatte sie zu den meisten davon auch seit Ewigkeiten keinen Kontakt mehr!
Annabel seufzte erneut und blätterte Seite für Seite weiter. Was für eine unsinnige Idee! Am besten, sie akzeptierte endlich, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: entweder sie flog alleine oder sie versuchte morgen früh, sich einen Teil der Reise zurückzahlen zu lassen! Sie war gerade beim Buchstaben ‚S’ angekommen, als ihr Blick auf einen Namen fiel, der ein breites Grinsen auf ihr Gesicht zauberte: Simon! Natürlich, wieso war sie da nicht gleich drauf gekommen! Und die Nummer, die neben seinem Namen stand, war eine Handynummer. Es bestanden also wirklich gute Chancen, dass sie ihn, egal wo er auch war, sofort erreichen konnte! Es sei denn, er hatte seine Nummer geändert. Aber wenn sie sich richtig erinnerte, war es noch gar nicht so lange her, dass sie das letzte Mal etwas von ihm gehört hatte. Höchstens ein oder zwei Jahre. Im Vergleich zu all den anderen, von denen sie zum Teil über zehn Jahre nichts mehr gehört hatte, waren das Peanuts!
Simon... Ein nostalgisches Lächeln umspann ihre Lippen. Simon war während ihres Studiums ihr bester Freund gewesen. Besser als irgendeine von ihren Freundinnen zu dieser Zeit. Und wenn sie es recht überlegte auch besser als irgendeine Freundin überhaupt bis heute. Sie hatten stundenlang reden können, zig Ausflüge an den Wochenenden gemeinsam gemacht und zusammen für die Prüfungen gelernt. Sie hatten alles miteinander geteilt bis zu den intimsten Geheimnissen. Alles, bis auf eins: ihre Beziehung hatte die Grenzen der Freundschaft nie überschritten. Sicherlich aus Angst, dadurch etwas kaputt zu machen, das nie wieder zu kitten gewesen wäre!
Ihre regelmäßigen Treffen hatten auch noch angehalten, nachdem Annabel Harald kennen gelernt hatte. Erst nach Annabels Hochzeit zog sich Simon immer mehr zurück. Annabel hatte zwar weiter versucht, den Kontakt zu halten, indem sie regelmäßig Weihnachts- und Geburtstagskarten an Simon schickte, aber offensichtlich war für die Freundschaft, die sie während der ganzen Studienjahre gehabt hatten, einfach kein Platz mehr.
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