Simon... Wie würde er wohl reagieren, wenn sie nach so langer Zeit wieder anrufen würde? Mit zitternden Händen griff Annabel zum Telefon und wählte die Nummer. Das Herz schlug ihr vor Aufregung bis zum Hals, als das Freizeichen ertönte. Es läutete schon zum fünften Mal, als der Anrufbeantworter ansprang. Es war tatsächlich noch Simons Anschluss, aber er war nicht da. Annabel legte auf. Es würde sowieso nichts bringen, eine Nachricht zu hinterlassen, denn bis er sie abhören würde, wäre es für den Vorschlag, den sie ihm unterbreiten wollte, sicher schon zu spät. Wozu also unnötig Staub aufwirbeln? „Schade.“ murmelte sie und ging schweren Herzens wieder zu ihrem Koffer zurück. Dann würde sie eben doch alles stornieren. Allein zu fliegen war noch schlimmer als allein hier zu bleiben!
Gerade hatte sie ihr hübsches Abendkleid in den Schrank zurückgehängt, als das Telefon klingelte. Annabel sah auf die Uhr. Es war fast Mitternacht! Lisa und ihre Mutter waren sicher schon lange im Bett. Wer um Himmels konnte um diese Zeit noch bei ihr anrufen? Harald vielleicht?
„Hallo?“ meldete sie sich nach dem dritten Klingeln. „Hallo, mit wem spreche ich denn?“ hörte sie eine männliche Stimme sagen. Misstrauisch zog sie die Augenbrauen zusammen. „Annabel Maier, wieso?“ „Weil Ihre Nummer auf meinem Display angezeigt wurde. Sie haben versucht...Annabel? Die Annabel?“ „Simon!“ Ja, jetzt erkannte sie ihn auch. Eigentlich hätten sie seine Stimme sofort erkennen müssen nach all den Jahren, in denen sie gemeinsam Stunden über Stunden am Telefon, in Cafés und bei sich zu Hause geredet hatten. „Das ist ja ’n Ding!“ rief Simon nun in den Hörer. „Wieso rufst du mich denn urplötzlich und mitten in der Nacht an? Wo bist du denn?“ „Ach Simon...“ seufzte sie. „Wenn du wüsstest!“ Und dann platzte alles ohne Umschweife einfach aus ihr heraus und sie erzählte ihm unter Tränen all das, was sich heute Abend und in den letzten Monaten ereignet hatte.
Simon hörte ihr zu. Auch wenn sie zwei Jahre nichts voneinander gehört hatten und ihr letztes Zusammentreffen noch viel weiter zurücklag, schien es ihm völlig normal, dass er jetzt wieder für sie da war. Es war, als hätten sie sich nie aus den Augen verloren. Als würden sie immer noch gemeinsam studieren und Annabel schüttete ihm einmal mehr ihr Herz aus, weil sie von einem ihrer Freunde enttäuscht worden war. „Tut mir leid, wenn ich dich einfach so mitten in der Nacht überfalle, aber..“ „Ist schon gut.“ meinte Simon. „Dazu sind Freunde doch da.“ „Das tut verdammt gut, so etwas zu hören...“ Wieder fing Annabel an zu weinen.
Simon wartete ein wenig, bis das größte Schluchzen nachgelassen hatte. Er wusste, dass sie das jetzt brauchte, sein wortloses Verständnis. Früher war das auch immer der beste Weg gewesen, ihr zu helfen. Besser als alle besänftigenden Worte. Erst als ein letzter, abschließender Seufzer am anderen Ende der Leitung zu hören war, unterbreitete er ihr seinen Vorschlag, der sich schon seit dem Moment, als er ihren Namen und ihre Stimme erkannt hatte, in seinem Kopf geformt hatte: „Weißt du was? Wie wär’s, wenn wir uns morgen oder die Tage einfach mal treffen? Es ist schon eine Ewigkeit her, dass wir uns nicht gesehen haben, und soweit wohnen wir doch gar nicht voneinander weg!“
Annabel fiel ein Stein vom Herzen. Simon hatte sich kein bisschen verändert. Er war immer noch der gute, alte Kumpel, auf den sie jederzeit zählen konnte. Sie war froh, ihn angerufen zu haben. Wenn er schon ein Treffen vorschlug, dann würde er vielleicht auch ihr Angebot, mit ihr eine Woche wegzufahren, nicht abschlagen. „Naja“, begann sie etwas zögerlich aus Angst vor ihrer eigenen Courage, „deshalb hab ich dich eigentlich auch angerufen. Ich hatte nämlich ein Attentat auf dich vor...“ „Früher war ich für Attentate von dir immer zu haben! Schieß los!“ Simons Neugier war geweckt. „Ich weiß natürlich nicht, ob du mittlerweile auch in festen Händen bist oder…” Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und unterbrach sie schäkernd: „Sag jetzt bloß nicht, dass du wilden Sex mit mir haben willst, um dich an deinem Mann zu rächen!“ Annabel stimmte in sein Lachen ein. „Nein, nein. Keine Angst. Wir haben damals nie die Grenze der Freundschaft überschritten, dann werde ich heute auch nicht damit anfangen!“
Einen Moment lang war es still. Dann räusperte sich Annabel und fuhr fort: „Naja, ich hab doch jetzt die zwei Flugtickets und das Hotel und...“ „Ist gebongt!“ Simon unterbrach sie mitten im Satz, und seine Spontaneität brachte sie erneut zum Lachen. „Simon! Du kannst doch nicht einfach so... ich meine, du musst doch sicherlich erst einmal klären, ob du auf der Arbeit überhaupt...“ „Wieso Arbeit? Es sind doch Schulferien. Als Lehrer hat man da immer frei!“ „Lehrer? Seit wann bist du denn Lehrer? Das letzte Mal hast du doch noch in einem Unternehmen für... Was haben die noch mal hergestellt?“ „Willst du das jetzt wirklich wissen oder wollen wir die Diskussion über unser beider Leben in den letzten zehn Jahren nicht lieber auf morgen im Flugzeug verschieben?“ Annabel musste grinsen. „Immer noch derselbe Pragmatiker! Aber du hast recht. Es ist schon ziemlich spät, vielleicht sollten wir einfach einen Zeitpunkt und Ort für morgen am Flughafen vereinbaren und alles weitere dann sehen.“ „Gute Idee!“
Als Annabel kurz darauf den Hörer auflegte, war sie zwar erleichtert über Simons spontane Zusage, aber ein wenig mulmig war ihr auch. Immerhin hatte sie Simon seit mindestens fünf Jahren nicht mehr gesehen! Und jetzt fuhr sie einfach so mir nichts dir nichts mit ihm in Urlaub! Andererseits waren sie früher auch schon gemeinsam weg gefahren. Verlängerte Wochenenden in interessante Städte in ganz Europa, Skiurlaub, Sommerferien... immer hatten sie sich gut verstanden und nie waren sie in Versuchung gekommen, die Grenze der Freundschaft zu überschreiten. War es das, was ihr Angst machte? Dass sie die Grenze der Freundschaft mit Simon überschreiten könnte?
Annabel schüttelte den Kopf. Unsinn! Wieso sollte ihre Freundschaft nach so vielen Jahren plötzlich in ein wildes, gegenseitiges Verlangen umschlagen? Sie hatte in Simon noch nie mehr gesehen als einen guten Kumpel, wieso sollte sich das plötzlich ändern? Wenn sie ein ungutes Gefühl wegen dieser Reise mit ihm hatte, dann sicherlich nur wegen Lisa. Wie sollte sie ihrer kleinen Tochter das alles nur erklären? Wie sollte sie ihr verständlich machen, dass sie plötzlich mit einem anderen Mann in Urlaub gefahren war?
Dass Lisa sofort beim ersten Anruf von ihr fragen würde, wie es auf Madeira war und ob ihr Papa sich über die Überraschung gefreut hatte, stand ganz außer Zweifel. Aber wie sollte sie darauf reagieren? Sollte sie ihr die Wahrheit sagen? Die ganze, verdammte, beschissene Wahrheit, dass ihr Vater seit Monaten mit einer anderen rumhurte!? Nein, natürlich nicht! Natürlich durfte sie ihre kleine Tochter nicht mit der harten Realität der Erwachsenenwelt belasten. Natürlich würde sie eine andere Lösung finden müssen, auch wenn es ihr zuwider war, Lisa anlügen zu müssen. Aber vielleicht würde es reichen, ihr einfach nicht die ganze Wahrheit zu sagen? Wenn sie ihren Fragen geschickt ausweichen würde, dann würde sie sie doch gar nicht anlügen müssen, oder?
Während Annabel das Abendkleid wieder zurück in ihren Koffer legte und noch ein paar andere Sachen dazu packte, schaffte sie es einfach nicht, an etwas anderes zu denken als an ihre Tochter, und wie sie sich ihr gegenüber in Anbetracht der neuen Situation nun verhalten sollte. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, Lisa zu erzählen, dass ihr Papa nicht mehr zu Hause war, dass er sie, Annabel, ihre Mama, wegen einer anderen verlassen hatte. Schon gar nicht, nachdem sich ihr kleines Mäuschen so über ihre Idee mit der Überraschungsreise gefreut hatte. Sie war davon überzeugt gewesen, dass ihre Mama und ihr Papa einfach nur mal wieder gemeinsam Urlaub machen müssten, damit alles wieder gut würde. Sie hatte gespürt, dass etwas nicht in Ordnung war und hatte mithelfen wollen, es wieder in Ordnung zu bringen.
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