Ryan, dem der eng zusammengefaltete rosa Zettel, auf dem sein Name in schnörkeligen Buchstaben geschrieben stand, während der Deutschstunde von seinem Banknachbarn zugesteckt worden war, öffnete das Briefchen und las dessen Inhalt zunächst still und unbemerkt. Doch die letzten Worte waren so lustig, dass ihm ungewollt ein geräuschvolles Kichern entfleuchte. Alle seine Klassenkameraden richteten sofort neugierig ihre Blicke auf ihn und auch das Interesse der Klassenlehrerin Miss Sweeney wurde sofort geweckt.
„Ryan Mac Dubh. Das scheint ja sehr amüsant zu sein, was du da liest. Dann wäre es doch nur fair, wenn du die ganze Klasse daran teilhaben lässt.“
Als Ryan der Aufforderung nicht nachkommen wollte und nur beschämt nach unten blickte, setzte sie nach: „Oder willst du lieber einen Eintrag im Klassenbuch?“
Die Drohung zeigte Wirkung. Ryan folgte und trug Wort für Wort der eindeutig in Mädchenhandschrift verfassten Zeilen laut vor:
Lieber Ryan,
ich schreibe dir, weil ich mich unsterblich in dich verliebt habe.
Ich habe schon seit Wochen mit meinem Hund das Zungenküssen geübt und bin mittlerweile schon richtig gut.
Willst du mein erster menschlicher Kusspartner sein?
In Liebe
deine Susan Riedel
Das Klassenzimmer bebte vor lauter Gelächter. Selbst die Mundwinkel der strengen Miss Sweeney entgleisten für einen kurzen Moment nach oben, bevor sie wieder in gewohnt militärischem Ton für ordentliches Benehmen sorgte.
„Ruhe! Was soll denn das Affentheater? Ihr seid doch keine Kleinkinder mehr!“, sie klopfte mit dem hölzernen Zeigestab mahnend auf die vollgeschriebene Tafel.
Susan war indes mit weit geöffnetem Mund auf ihrem Platz in der ersten Reihe gesessen und hatte minutenlang versucht das Weinen zurückzuhalten. Als Amys boshafter Blick in ihre Richtung blitzte und sie an dem hämischen Grinsen erkannte, wem sie diese Blamage zuzuschreiben hatte, brach der salzige Tränendamm. Susan rannte – die Hände schützend vors zornig rote Gesicht gehalten – aus dem Klassenzimmer. Danach war sie eine ganze Woche lang krankgemeldet gewesen.
Es gab also guten Grund für Aurelie nichts Gutes zu ahnen, als Amy Gritzwoods Handlanger Sarah Alastair und Mindy Shaw die boshafte Mädchenrunde verließen und schnurstracks auf sie zu kamen. Beide Mädchen trugen gerillte Einwegplastikbecher, randvoll mit Wasser gefüllt, in ihren Händen. Aurelie erkannte schnell, dass ihr wohl eine kalte Dusche bevorstand und blickte hoffnungsvoll auf die andere Seite des Pausenraumes, wo sich Miss Sweeney angeregt mit Mr. Griffiths unterhielt. Die zierliche Lehrerin dachte aber gar nicht erst daran, ihre Augen auch nur eine Sekunde von ihrem Gesprächspartner abzuwenden.
„Feuer muss gelöscht werden“, riefen die beiden Widersacherinnen in kicherndem Ton und hoben dabei ihre Arme hoch in die Luft, um die glasklare Flüssigkeit genüsslich auf die rote Haarpracht zu ergießen.
Die blonde Drahtzieherin stand wie gewohnt in sicherer Entfernung und gab bloß durch das schadenfrohe Grinsen zu erkennen, dass dieser Streich aus ihrer Feder stammte.
Aurelie überkam ein unbändiger Zorn. Der Gedanke daran, dass Amy Gritzwood erneut ungeschoren davonkommen würde, stach wie ein spitzer Gegenstand in ihre Magengegend. Es war einfach nicht fair, dass jeder sich von dem scheinheiligen Lächeln blenden ließ. War denn keiner in der Lage die hinter der Lipglossfassade versteckte hässliche Boshaftigkeit zu erkennen?
Als die runden Wasserperlen gerade dabei waren der Schwerkraft folgend auf sie herabzuregnen, riss Aurelie reflexgesteuert blitzartig ihre Arme nach oben und schirmte ihren Kopf schützend mit den Handflächen ab. Die kaltnassen Tropfen wechselten mit einem Mal die Richtung, als ob sie von einem unsichtbaren Schutzschild abprallen und zurückfedern würden. Anstatt sich auf das rothaarige Mädchen zu ergießen, formte das Wasser einen Strahl, suchte sich seinen Weg zwischen den Köpfen der beiden Ausgießer hindurch und traf schließlich mit voller Wucht mitten in das Gesicht der völlig verdutzten Amy Gritzwood. Die zierliche Blondine blickte fassungslos an sich hinunter. Das klatschnasse Haar klebte wie Kaugummi an der hellrosa Seidenbluse, aus der nach und nach die Farbe entwich, bis sich durch den feuchten Stoff die Bügel des weißen BHs deutlich abzeichneten. Ein gellender Schrei hallte durch den Pausenraum, so laut, dass selbst Miss Sweeney ihn nicht ignorieren konnte. Wütend stapfte sie mit ihren Absatzstiefeln aus grünem Veloursleder, die bei jeder Berührung mit dem Boden laut klackerten, in Richtung der Mädchen, um die sich mittlerweile eine Schar lachender Mitschüler gebildet hatte. Es gab niemandem im Raum, der Amy Gritzwood diese Schmach nicht wenigstens ein bisschen gegönnt hätte. Selbst Sarah Alastair und Mindy Shaw, die sich zwar überhaupt nicht erklären konnten, was soeben passiert war, aber auch keinen Gedanken daran verschwendeten es herauszufinden, gelang es nur schwer sich das schelmische Grinsen zu verkneifen. Schließlich waren sie schon oft genug für Amys Streiche bestraft worden.
„Könnt ihr euch denn nicht ein einziges Mal ordentlich benehmen? Amy Gritzwood, von dir hätte ich so ein Verhalten wirklich nicht erwartet!“, zischte Miss Sweeney, während sie ihren kurzen marineblauen Rock, den sie während ihres Gespräches mit Mr. Griffiths ungeniert etwas nach oben hatte rutschen lassen, wieder in Richtung Knie zupfte.
Die sonst so schlagfertige Amy brachte indes kein Wort heraus, so erschüttert war sie darüber, dass sie nun selbst zur Lachnummer geworden war. Noch bevor sie Sarah Alastair und Mindy Shaw, die versuchten ihre leeren Plastikbecher möglichst unauffällig hinter dem Rücken zu verstecken, „ Das werdet ihr mir noch büßen “ ins Ohr flüstern konnte, tauchte das Gesicht von Ryan Mac Dubh im Hintergrund der Schülertraube auf. Nicht nur er, die gesamte Basketballclique hatte sich zum lachenden Mob gesellt. Amys zartes Gesicht färbte sich nach und nach in einen satten Rotton, bis ihr Kopf eher einer Tomate glich. Schüchtern verschränkte sie die Hände vor der Brust, um Einblicke der Jungenschar in ihre transparente Bluse zu verhindern. Gefolgt von den Augen der gesamten Schülerschaft schritt die gefallene Königin sodann hastigen Ganges, den Kopf tief nach unten gebeugt, wortlos aus dem Pausenraum in Richtung Mädchentoilette.
Sarah Alastair und Mindy Shaw genossen noch einen kurzen Moment die unverdiente Anerkennung für die mutige Tat, bis sich die Schüler wieder genüsslich ihrem Mittagessen widmeten. Aurelie stand indes noch immer wie angewurzelt mit erhobenen Händen im Raum und versuchte zu begreifen, was soeben passiert war. Hatte sie denn als einzige gesehen, wie das Wasser auf unerklärliche Weise die Richtung gewechselt hatte? Oder war es nur schon wieder ein Tagtraum gewesen?
Das Klingeln der Pausenglocke riss Aurelie aus ihren Gedankenkreisen, die zwischen echter Magie und ersten Anzeichen einer Geisteskrankheit hin und her wanderten. Grübelnd folgte sie ihren Mitschülern in den Klassenraum und nahm ihren Platz ein. Amy Gritzwoods Schulbank blieb in dieser Stunde leer.
Zeitgleich im 20. Geschoss eines gigantischen Gebäudekomplexes am Südufer der Themse in London. In einem langgezogenen Büroraum, in dem mindestens 100 durch Sichtblenden voneinander getrennte, in einem monotonen Grauton gehaltene Schreibtische gänzlich idente Arbeitsplätze bildeten, blinkte auf einem der silbernen Computermonitore plötzlich ein großer roter Punkt auf der dort eingeblendeten Landkarte auf.
„Na, was haben wir denn da?“, murmelte die kleine Gestalt mit den hoch emporstehenden Ohren, die sie problemlos in alle Richtungen drehen und wenden konnte und stellte dabei einen vollgefüllten Kaffeebecher so unsanft ab, dass das braune Gesöff fast auf die makellos staubfreie Tischplatte überschwappte.
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