Sie drehte sich im Kreis, stolperte einige Schritte weiter. Im Augenwinkel nahm sie eine kurze Bewegung wahr, fühlte es mehr, als das sie es sah.
„Bist du das, Ker?“, rief sie.
Konturen lösten sich aus dem Dunkel, kamen auf sie zu.
„Was macht Ihr hier? Ihr solltet doch mit Ker bei den Vorräten warten“, fragte Zemal.
„Wo ist Ker?“, wollte Mo wissen, die mit dem Rest der Gruppe ebenfalls ankam.
„Ker ist verschwunden. Wir haben dich schreien hören, Mo, und wollten nach euch sehen. Wir hatten befürchtet, ihr könntet in die Hände der Fremden gefallen sein. Aber dann kamen Wüstenratten. Ker hat mit ihnen gekämpft, ich habe ihn dabei aus den Augen verloren. Blind wie ich in der Nacht bin, ist das nicht allzu schwer. Jetzt suche ich nach ihm. Was war denn da los im Lager der Fremden? Gab es Schwierigkeiten?“, antwortete Beo.
„Das Lager der Fremden wurde von ein paar Wüstenratten angegriffen. Es waren nicht viele, wir haben sie getötet“, sagte Mo.
„Wir haben sie dabei. Das sollte unsere Vorräte wieder ein wenig auffüllen und wenn wir ihr Blut trinken, sparen wir für einen ganzen Tag Wasser“, ergänzte Preido stolz.
„Die Fremden sind definitiv keine Verdammten …“, begann Skio.
„Über die Fremden könnt ihr mir später berichten. Jetzt müssen wir erst einmal Ker finden“, unterbrach sie Beo.
„Älteste Beo hat recht“, stimmte ihr Mo zu, „Er könnte wieder in Schwierigkeiten stecken“
„Da vorn liegt eine tote Ratte und daneben sind Spuren“, sagte Zemal und war bereits unterwegs.
Die anderen folgten ihm und später den Fußspuren bis hin zur Felsspalte.
„Hier hören die Spuren auf“, sagte Zemal.
„Der Kindskopf wird doch nicht etwa da hineingekrochen sein“, meinte Mo.
Sie hatte kaum ausgesprochen, als Ker seinen Kopf aus der Felsspalte nach draußen steckte.
„Ich bin kein Kind!“, beschwerte er sich, „Ich habe Beo vor zwei Wüstenratten gerettet!“
„Und dazu musstest du dich da in diesem Loch verkriechen?“, fragte Mo ungläubig.
„Das habe ich entdeckt. Da unten gibt es eine große Höhle mit vielen Gängen. Viel größer als die in der wir als Kinder gespielt haben. Irgendwo tiefer muss Wasser sein, man kann es rauschen hören. Allein habe ich mich aber nicht weiter hinein getraut“, berichtete Ker.
„Scheiße, bestimmt pfeift nur der Wind durch die Höhle. Ich bin immer noch dafür, den Fremden einfach das Wasser abzunehmen. Wären wir nicht da gewesen, hätten die Wüstenratten sie wahrscheinlich zerfleischt. Beim nächsten Mal tun sie es ganz sicher. Dann brauchen sie ihr Wasser ohnehin nicht mehr“, sagte Tikku.
„Die Fremden haben riesige Tiere dabei, größer als ein Mensch“, sprudelte es aus Skio heraus, „Sie haben einen großen Buckel und einen langen Hals. Die Fremden haben Stricke um den Kopf der seltsamen Tiere gebunden und halten sie daran fest. Warum die sich das gefallen lassen, weiß ich nicht. Schließlich sehen sie doch viel stärker aus als die Fremden. Die Fremden selbst tragen ganz komische Kleider in grellen Farben. Auch ihre Gesichtstücher sind bunt. Und wenn sie reden, klingt es komisch, ich habe fast nichts verstanden. Es gab auch einen Fremden, der hatte gar kein Gesichtstuch, sondern ein Rad auf dem Kopf. Der lief auch nur auf einem Bein, ein Stock unter seiner Achsel ersetzte das zweite“
„Ich glaube, sie haben uns nicht einmal kämpfen sehen. Nachtjäger sind keine unter ihnen, sie tragen stattdessen Feuer in ihren Händen. Deshalb rasten sie in der Nacht“, meinte Mo.
„Ich habe mehr als dreißig Fremde gezählt, das meiste sind Männer. Und sie sind bewaffnet. Die Spitzen ihrer Speere sind aus Metall“, ergänzte Zemal.
„Hast du nicht gesehen, wie sie zurückgewichen sind, als die erste Wüstenratte zum Angriff pfiff? Scheiße, die machen sich doch in ihre bunten Hosen, wenn sie uns sehen“, sagte Tikku.
„Wir wissen nicht, warum sie hier sind und wie sie auf uns reagieren, ob sie überhaupt mit uns reden würden. Ein Überfall kommt für mich weniger denn je in Frage. Schon gar nicht, wenn wir in dieser Höhle Aussicht auf Wasser haben. Mo?“, sagte Beo.
„Ich weiß nicht. Was meinst du, Zemal?“, fragte Mo.
Zemal, der sich lässig auf seinen Speer gestützt hatte, richtete sich auf. Er presste die Lippen zusammen, sein Rücken versteifte sich. Schon wieder sollte er entscheiden.
„Die Fremden hätten wir schnell wieder eingeholt, sollte es dort unten doch kein Wasser geben“, sagte er zögerlich.
„Gut, dann lasst uns unsere Sachen holen und die Höhle erkunden.“, entschied Mo.
„Verdammte Scheiße, ich hasse Höhlen!“, fluchte Tikku.
***
Irgendwann hatte Houst die Müdigkeit doch übermannt und er musste eingeschlafen sein. Als er aufwachte, kroch die Sonne bereits über den Horizont. Er brauchte ein wenig, bis er sich orientiert hatte und an die Ereignisse der letzten Nacht erinnerte. Fast schien es ihm noch wie ein Traum. Houst erhob sich und – noch etwas wacklig auf den Beinen – streifte er durchs Lager. Der Anführer der Kameltreiber stand mit einigen seiner Leute etwas entfernt, etwa da wo in der Nacht die Geräusche hergekommen waren. Dieser Krüppel Esrin lungerte ebenfalls dort herum. Houst gesellte sich zu ihnen. Der Wind hatte die Spuren noch nicht gänzlich verweht, menschliche Fußabdrücke und Fährten mehrerer Tiere konnte Houst noch deutlich erkennen. Direkt vor den Füßen des Anführers lag … nun ja, eine Ratte, obwohl sie für eine Ratte viel zu groß war.
„Ihr wolltet mir ja nicht glauben, dass sie so groß sind. Jetzt seht ihr es selbst. Genau solche Viecher haben Zep auf dem Gewissen“, sagte einer der Kameltreiber.
Zep, so hieß wohl der Mann, den sie vor zwei Tagen über die Mauer bei den Ruinen der Alten geschickt hatten. Sicher kein schöner Tod, von so etwas angefallen zu werden. Houst betrachtete die Ratte eingehend. Außer ihrer beachtlichen Größe sah sie aus wie eine gewöhnliche Ratte. In ihrer Flanke klaffte eine größere Wunde, die wohl auch Grund ihres Ablebens gewesen sein dürfte. Soweit sich Houst erinnerte, hatte gestern Nacht keiner der Männer das Lager verlassen. Wer also hatte diese Ratte getötet? Houst entschloss sich zu glauben, dass es die Verdammten gewesen sind, dass es sie doch geben müsse. Allein schon die Fußspuren sprachen dafür. Waren sie noch in der Nähe? Houst blickte sich um, suchte die Gegend nach Anzeichen irgendeiner Bewegung ab. Außer dem ständig aufwirbelnden Staub entdeckte er nichts.
„Ihr fragt euch auch, wer uns das Schicksal des armen Zep erspart hat, nicht wahr? Eure Verdammten sind anscheinend doch keine Legende. Mir stellt sich eher die Frage, warum sie es getan haben. Sind es unverbesserliche Gutmenschen, oder schauen sie einfach nur gern zu, wie wir uns durch diese vermaledeite Wüste quälen? Ich tippe ja auf das Letztere“, sinnierte Esrin.
„Es mag euch verwundern, aber es gibt tatsächlich Menschen, denen das Leben anderer Menschen nicht völlig egal ist“, entgegnete Houst.
„Dies aus Eurem Munde zu hören, amüsiert mich. Ich habe oft genug für Euch den Dreck wegräumen müssen. Es hat mir dies hier …“, Esrin machte mit der freien Hand eine ausladende Geste, „… eingebracht. Aber lassen wir die alten Geschichten ruhen. Schauen wir lieber, ob sich Eure Verdammten wirklich um unser Wohlergehen sorgen. Ihre Spuren führen da hinter. Wir sollten ihnen folgen, solange sie der Wind noch nicht völlig zugeweht hat“
Der Krüppel hatte recht. Ihnen bot sich gerade die einmalige Gelegenheit, die Verdammten kennen zu lernen. Während die Kameltreiber weiter über die tote Ratte diskutierten, folgte Houst den Spuren in die Einöde. Esrin begleitete ihn. Ein alter Mann und ein Krüppel, was werden die Verdammten wohl zu so einer Abordnung sagen. Nach wenigen hundert Metern traf die Spur der sie folgten auf eine weitere, viel deutlichere Spur. Fast konnte man schon von einem Trampelpfad sprechen. Hier waren vor kurzem Menschen in beide Richtungen unterwegs gewesen. Die beiden Männer entschieden sich erst für rechts, der Pfad führte sie an einer Felsgruppe entlang und durch eine Lücke zwischen zwei Felsen hindurch. Dort verschwanden die Spuren in einer Felsspalte, vor der eine dieser Ratten hockte und den Neuankömmlingen entgegen fiepte. Im nächsten Augenblick sprang sie auch schon auf Houst zu. Dieser erstarrte vor Schreck. Mit einer Geschwindigkeit, die ihm Houst niemals zugetraut hätte, rammte Esrin der Ratte seine Krücke in die Seite. Von der Wucht des Stoßes wurde die Ratte gegen den Felsen geschleudert, deutlich hörte man Knochen brechen. Bevor sich die Ratte wieder aufrappeln konnte, schnitt ihr Esrin mit einem Messer die Kehle durch.
Читать дальше