„Was ist los? Wir gehen weiter! Die Kette hat doch prima funktioniert, sogar den Sturm haben wir überstanden. Kommt endlich!“, forderte sie.
„So eine Scheiße! Hoffentlich finden wir bald Wasser“, fluchte Tikku.
Mit leicht hängenden Schultern zog jeder der Nachtjäger erneut allein hinaus in die Einöde.
***
Anfangs hielt Mo die Schatten in der immer noch von aufgewirbeltem Staub trüben Atmosphäre für eine besonders große Felsformation. Erst als sie näher kam, schärften sich die Konturen und waren als Gebäude erkennbar. Ruinen der Alten. Im spärlichen Licht der beginnenden Morgendämmerung, bar jeglicher Farbnuancen, wirkten sie bedrohlich. Mos Magen rebellierte ein wenig. Eigentlich hatten sie einen weiten Bogen um Nadamal gemacht. Sollten sie derart vom Weg abgekommen sein? Ihre Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet, dies war nicht Nadamal. Die Ruinen bestanden lediglich aus einer Handvoll Gebäuden. Auch Tikku, der in etwa hundert Metern neben Mo lief, hatte sie inzwischen entdeckt, gestikulierte wild mit den Armen und deutete immer wieder in diese Richtung. Mo ging zu ihm hinüber. Zusammen mit Tikku wartete sie, bis sich die Neuigkeit über Preido in der Kette weiterverbreitete und sich die ganze Gruppe bei ihnen einfand.
„Da sind einige Gebäude“, sagte Tikku und zeigte auf die Ruinen.
Beo kniff angestrengt die Augen zusammen, schüttelte dann leicht mit dem Kopf und ließ die Schultern ein wenig sinken. Offensichtlich konnte sie nicht viel erkennen. Es musste schwer für sie sein, als einzige normale Verdammte unter Nachtjägern. Zemal konnte ihre Resignation nachfühlen, noch vor wenigen Monaten war er bei derartigen Lichtverhältnissen ebenso blind gewesen wie sie.
„Wir sollten sie untersuchen. Mit ein wenig Glück funktioniert die Wasserversorgung noch“, schlug Mo vor.
„Können wir damit warten, bis auch ich etwas sehen kann?“, bat Beo, „Ruinen der Alten sind gefährliche Orte“
„Es ist noch ein Stück. Bis wir dort sind, sollte es hell genug sein. Ansonsten rasten wir am Rand noch einmal“, antworte Mo.
„Einverstanden. Dann lasst uns gehen“, stimmte Beo zu.
Die Hoffnung auf Wasser, ja vielleicht sogar ein neues Zuhause, trieb sie schnell voran. Je näher sie kamen, desto deutlicher – und monströser – zeigten sich die Ruinen. Ein fensterloser, mehrere Stockwerke hoher Betonklotz thronte vor ihnen, in dessen Mitte ein Turm aufragte und sich irgendwo im Himmel verlor. Der Klotz selbst schien vollkommen intakt, von Ruinen konnte man nur bei den umliegenden Häusern sprechen. Es war noch ziemlich dunkel, als sie an den ersten Überresten ankamen. Dennoch untersuchten sie diese sogleich. Beo beschwerte sich nicht, inspizierte sogar als erste eines der Gebäude. Viel zu sehen gab es dort allerdings nicht. Wie die Ruinen am Rand von Nadamal war auch dieses Haus komplett leergeräumt. Ein Haufen zusammengefallener Steine aus denen hier und da noch die Reste der einstigen Mauern herausschauten. Und das nächste Haus befand sich in keinem besseren Zustand. Sie ließen die restlichen Ruinen links liegen, der düstere Klotz bot sicher Interessanteres. Um zu ihm vorzudringen, mussten sie aber erst einmal die Mauer überwinden, die ihn umringte. Sie war gut zwei Mann hoch, wie das Gebäude selbst aus massivem Beton errichtet und deshalb noch nicht verfallen. Da aber auch die Alten wohl kaum über diese Mauer gesprungen sein dürften, musste es einen Eingang geben.
„Wir sind schon einmal um diese scheiß Mauer herum!“, sagte Tikku nach nur wenigen Metern, „Da sind unsere Fußspuren“
Tatsächlich konnte man an Stellen, an denen der permanente Wind den Staub der Einöde nicht ständig aufwirbelte, die Reste einiger Fußabdrücke erkennen.
„Wir sind gerade mal zehn Meter gelaufen. Außerdem sind die Spuren älter. Jemand hat die Mauer vor uns umrundet“, korrigierte Mo.
„Vielleicht sind sie noch hier. Wir sollten vorsichtig sein“, warnte Zemal.
„Es könnte eine der Expeditionen sein, die wir auf die Suche nach neuen Wasserquellen geschickt haben. Wer außer uns Verdammten sollte sonst durch die Einöde streifen“, beruhigte ihn Beo.
„Scheiße, und wenn es irgendwelche Alten aus diesem Klotz da sind?“, warf Tikku ein.
„Dann wären wir die ersten, die ihnen seit einem knappen Jahrtausend begegnen. Lasst uns einfach weitergehen“, sagte Mo.
Sie setzten ihren Weg fort, folgten der Mauer und den Spuren. Zemal hielt seinen Speer bereit. Ker, der ihn dabei beobachtete, nahm seine Waffe ebenfalls zur Hand. Seit er ihm das Leben gerettet hatte, war Zemal so etwas wie ein Idol für den Jungen. Sie umrundeten die Mauer ohne Zwischenfälle, aber auch ohne eine Lücke zu finden. Letztlich kamen sie an ein großes, metallenes Tor. Rechts und links auf der Mauer daneben befanden sich die seltsamen Augen, die Zemal und Mo schon aus Nadamal kannten. Doch an diesen Augen hier blinkte weder ein rotes Licht, noch folgten sie ihren Bewegungen. Trotzdem hob Zemal vorsorglich einen Stein auf und warf ihn zum Tor. Der Stein schepperte gegen das Metall und fiel zu Boden. Mehr passierte nicht. Neben dem Tor hatte jemand einige Steine zu einer Treppe aufgestapelt. Sie war allerdings gerade einmal so hoch, dass ein ausgewachsener Mensch, der auf den Schultern eines anderen stand, den Rand der Mauer erreichte.
„Komm!“, forderte Mo Zemal auf, „Wenn ich auf deine Schultern steige, kann ich über die Mauer klettern“
„Und dann?“, fragte Beo, „Wie willst du jemals wieder herauskommen? Ich halte das für keine gute Idee. Vielleicht bewirken diese Knöpfe hier ja etwas“
Beo stand am Rand des Tores. Kratzspuren an den Kanten verrieten, dass jemand versucht hatte, das Tor aufzustemmen. Offensichtlich ohne Erfolg. In die Wand daneben war eine kleine Tafel mit lauter runden Löchern eingelassen, darunter befanden sich ein schmaler Schlitz mit einem komischen, nur fingerbreiten Feld daneben und drei Knöpfe. Zusammen mit Mo und Zemal inspizierte Beo neugierig den Schlitz, fuhr mit dem Finger über den schmalen Steg in der Mitte des Feldes daneben, dann drückte sie vorsichtig einen der Knöpfe. Nichts passierte. Auch die beiden anderen Knöpfe bewirkten nichts.
„Da drinnen fressen Wüstenratten jemanden!“, rief Ker.
Er hatte sich bis an den Rand der Mauer hochgezogen und schaute ins Innere. Unter ihm stand Tikku und stützte ihm seine Füße ab.
„Können wir ihm helfen?“, wollte Beo wissen.
„Nein, er ist schon tot. Er trägt komisch bunte Kleidung, sieht nicht wie ein Verdammter aus“, berichtete Ker und ließ sich auf Tikkus Schultern zurückfallen.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Preido.
„Nach drinnen können wir jedenfalls nicht. Dass jemand von uns das Schicksal dieses Mannes teilt, möchte ich nicht riskieren“, antwortete Beo, „Wir sollten weiterziehen, etwas anderes bleibt uns kaum übrig“
„Ja gehen wir lieber, das Gebäude ist mir unheimlich. Hinter so einer Mauer kann sich nichts Gutes verbergen“, stimmte ihr Ilbi zu.
Die anderen Nachtjäger schauten erwartungsvoll zu Mo. Für einen Moment trat Mo unschlüssig von einem Bein auf das andere, drehte sich dann noch einmal zu dem Gebäude um, ihr Blick folgte dem Turm in den mittlerweile blauen Himmel.
„Bist du dir sicher, dass es kein Verdammter war, Ker“, fragte sie schließlich.
„Zumindest keiner aus unserer Siedlung. Oder hast du dort schon einmal ein blaues Hemd gesehen“, antwortete Ker.
„Ich wüsste zu gern, wer er war“, sagte Mo.
„Mmh, nach den Fußspuren zu urteilen, war er nicht allein. Zwar ist nicht bekannt, dass in unserer Siedlung jemals ein anderer Verdammter aufgetaucht ist – und wir leben schon seit Generationen dort –, es ist aber nicht ausgeschlossen, dass es noch andere Verdammte geben könnte. Meint ihr, wir könnten ihren Spuren folgen?“, fragte Beo.
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