Angefangen hatte alles mit einem Praktikum bei einer Fernsehserie für RTL. Fast drei Monate lang hatte ich Kaffee gekocht, Brötchen geschmiert und Straßen gesperrt.
Markus, den ich noch von meinem Nebenjob bei McDonald’s kannte, hatte mir die Telefonnummer des Produktionsleiters gegeben. Rein zufällig hatte ich den großen, spindeldürren Markus mit der winzigen Brille und den strähnigen Haaren im Schwimmbad getroffen, kurz nach dem ich aus meinem Wehrdienst im Juli entlassen worden war.
Probier es, sagte er, vielleicht brauchen wir einen Praktikanten. Sie brauchten einen. Ich zog zu Markus in ein freies WG-Zimmer im fünften Stock eines heruntergekommenen Hauses direkt am Hansaplatz in St. Georg und fing im September an. Als Praktikant der Aufnahmeleitung wurde ich Arsch für alles und jeden. Wenig Geld, viel Verachtung. Niemand machte sich die Mühe, sich meinen Namen zu merken.
Praktikanten kommen und gehen, sagte eine Kollegin von der Requisite. Die Schauspieler, die ich in die Maske brachte und danach zum Set, sprachen nicht einmal mit mir. Hübsche Kolleginnen sah ich an, mehr nicht. Nur eine hübsche Schwarzhaarige vom Kostüm wollte ich einmal ins Kino einladen, aber die Gelegenheit sie zu fragen kam nicht. Auf der Abschlussfeier fehlte sie, und ich ging früh.
Ich hielt diese drei Monate durch, weil ich schließlich nicht Aufnahmeleitung machen, sondern Regisseur werden oder Drehbücher schreiben und viel Geld verdienen wollte mit dem, was mich schon immer begeistert hatte. Anhand eines beliebigen Zwei-Sekunden-Ausschnittes konnte ich jeden einzelnen meiner 756 Filme identifizieren.
Im Januar ging ich erst zum Arbeitsamt und fragte anschließend im Studio Hamburg nach Arbeit. Erst zum September konnte ich mein Studium an den Filmhochschulen in München, Ludwigsburg oder Berlin beginnen. Und meine Aufnahme dort stellte ich niemals in Frage. Jeden einzelnen meiner 756 Filme, jeden einzelnen, nach zwei Sekunden.
Ich dachte, mit meinem Traum vom Film und einem Praktikum würde ich mit offenen Armen empfangen. Bis zum Juli erhielt ich nur Absagen auf meine Bewerbungen bei den Produktionsfirmen im Studio Hamburg, im Juli blätterte ich noch in den Stadtplänen der Studienorte, Ende Juli kamen die Briefe: »...dass die Aufnahmekommission der Filmakademie Baden-Württemberg Sie nicht zur Aufnahmeprüfung... dass die Begabung und Eignung nicht nachgewiesen werden konnte...«
Nicht einmal zu den Vorstellungsgesprächen wurde ich eingeladen.
Da Markus mir im August einen Job als Komparse bei einer neuen Produktion besorgte, betrachtete er mich bald als sein persönliches Eigentum. Immer wieder lief ich durch die Produktionsbüros, immer wieder hörte ich: »Produktion schon besetzt. Noch kein Produktionsbeginn absehbar. Wir haben unser altes Team übernommen. Wir rufen Sie an.«
Niemand rief mich an, so oft ich auch meine für fünf Mark am Automaten im Hauptbahnhof gedruckte Visitenkarte hinterließ. Mein Filmwissen nützte mir nichts, absolut nichts, kein einziger von 756 verfickten Filmen half mir, kein einziger. Null-Wissen. Unnütz wie ein Blinddarm.
Markus klagte, ich würde sein Geschirr nicht abwaschen und nicht kochen, er wüsste gar nicht, warum er mich überhaupt bei sich wohnen ließe, warum er mir überhaupt noch Jobs besorgte. Markus und ich, ich und Markus. Er machte mich wahnsinnig. Nur Markus, der andere Mitbewohner war ständig für Monate im Ausland auf irgendwelchen Fotosafaris.
Der Gefangene von Alcatraz in seiner Einzelzelle. Und der Wärter war drei Monate lang mein einziger Kontakt nach draußen. Keiner meiner Freunde war nach dem Abitur zum Studieren nach Hamburg gezogen.
Kiel und Berlin, München und Braunschweig, aber nicht Hamburg. Und ich hatte nicht eine einzige Person in Hamburg kennen gelernt, weil ich Smalltalk hasste, vom Bier Kopfschmerzen bekam und mir selbst eigentlich genug war.
Kino und der Fernseher vor meiner Matratze waren meine einzigen Interessen. Manchmal hoffte ich auf eine Frau, die so gerne träumte und vor dem Fernseher oder im Kino saß wie ich. Aber die lag wahrscheinlich auch immer zu Hause vor dem Fernseher oder saß im Kino drei Reihen hinter mir.
Ich hätte, dann wäre ich und müsste nicht.
An einem trüben Dezembertag fragte ich bei McDonald’s im Hauptbahnhof nach Arbeit. Die Arbeitslosenhilfe reichte nicht mehr, und Bafög hätte es nur für ein Studium gegeben. Aber ich wollte nichts studieren, was nicht wenigstens entfernt mit Film zu tun hatte. 756 Filme und Tausende Filmszenen hätten zu irgendetwas nützen sollen. Null-Wissen. Blinddarm. Alles Scheiße.
Da war ich also wieder, stand hinter dem Grill meiner ganz persönlichen Gefängniskantine, fragte ‚Auf zwölf‘ und legte Käse auf die Hamburger. Immer wieder ging ich in den nächsten Monaten ins Studio Hamburg und hinterlegte meinen Lebenslauf. Ab und zu schrieb ich an einem Drehbuch, das ich meinen nächsten Bewerbungen an den Filmhochschulen beilegen wollte.
Bis zum Oktober im nächsten Jahr, mehr als zehn Monate, hielt ich es aus bei McDonald’s, weil mein zweiter Versuch, an einer Filmhochschule angenommen zu werden, im Juli wieder kläglich gescheitert war. Da ich mich nur zweimal bewerben durfte, war das Thema erledigt. Kein akademischer Weg zum Ruhm.
Ein dreiviertel Jahr lang kam ich nach Bratfett stinkend nach Hause, die Hände halb gar. Der Geruch von Zwiebeln und Gurken ließ sich nie ganz abwaschen, soviel Seife ich auch benutzte. Ein Makel, ein Stigma, dessen Entdeckung ich immer fürchtete. Ich wurde fett und bekam Pickel von den vielen Burgern mit Pommes und Majo, die ich während der Arbeit in mich hineinstopfte. Blinddarmreizung.
Wenn die Zeit abhängig ist von dem was wir tun, dann glich meine Zeit einem zugefrorenen Entwässerungsgraben. Stillstand, hörte ich irgendwann jemanden sagen, Stillstand ist der Tod. Und wenn ich in meinem Leben einen Punkt erreicht hatte, an dem ich still stand, dann war es in Hamburg.
Ich saß in meinem kleinen mit Filmpostern und Videokassetten vollgestopften Zimmer und wusste nicht mehr weiter. Kein neues Praktikum, keine neue Komparsenstelle, nur McDonald’s. Was hätte ich anders machen sollen in meiner Jugend? Hätte ich während meiner Schulzeit mehr Filme drehen, mich der Schülerfilmgruppe anschließen müssen, statt nur auf dem Bett zu liegen und zu schlafen? Praktika beim NDR machen sollen, statt bei McDonald’s zu arbeiten? Dem verfickten McDonald’s?
Hätte ich meine Bewerbung anders gestaltet, die Fragen anders beantwortet, wäre ich vielleicht eingeladen worden. Ich hätte eine andere Drehbuchidee einreichen sollen. Hätte ich noch ein zweites Praktikum gemacht, wäre ich bestimmt genommen worden. Wahrscheinlich hätte ich nicht bei der Aufnahmeleitung arbeiten sollen. Praktika statt McDonald’s, Schülerfilmgruppe statt Schlafen.
Schokolade produzierte Endorphine, Pizza machte zufrieden und Masturbation glücklich. Fettes, wichsendes Schwein, mit Pickeln und glänzender Haut. Masturbation machte glücklich, machte süchtig, machte krank. Wachte ich morgens auf, nach flachem, hektischem Schlaf, spürte ich den ganzen Ekel umso deutlicher.
Und das Schlimmste stand mir noch bevor. Als ich Tim am Hauptbahnhof traf. Ich kam gerade von der Schicht nach Hause und er lief mir über den Weg. Ich erkannte ihn an seinen langen Haaren und dem Bart kaum, aber anscheinend hatte ich mich nicht verändert. Ich war wohl einfach immer noch fett.
Hey, sagte er und Hallo. Er sei auf dem Weg nach Berlin, nachdem er in Hamburg auf einem Kongress war. Wie es mir denn ginge. Er habe erst letztens an mich denken müssen, weil seine kleine Schwester auf Interrail gegangen war. Wie wir damals.
Ich lachte. Wenn ich die Erinnerung an Interrail und wie ich damals Sonja gefickt hatte, nicht gehabt hätte, wäre ich vermutlich längst von der Brücke gesprungen.
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