Als wir uns für den Tag gestärkt hatten, packte Kayla uns die übrig gebliebenen Brötchen, Käse und Honig in einen Rucksack. Ich bekam von ihr auch eine Flasche, sodass ich nun meinen eigenen Wasservorrat mit mir herumtragen konnte. Außerdem stattete sie mich noch mit einem alten grauen Wollumhang aus, damit ich in einer weiteren Nacht unter freiem Himmel nicht frieren musste. Ihre Herzlichkeit und Fürsorglichkeit rührten mich so sehr, dass ich am liebsten länger geblieben wäre. Doch Cuinn trat bereits ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und wäre wohl am liebsten schon vor dem Frühstück aufgebrochen. Als wir vor der Haustür standen, drückte Kayla Cuinn fest an sich.
„Es war schön, dich wiederzusehen. Pass gut auf dich auf und komm bald wieder!“ Sie löste sich von Cuinn und gab dann auch mir eine Umarmung. „Es hat mich gefreut, deine Bekanntschaft zu machen. Ich hoffe, du kannst bald wieder in deine Heimat zurückkehren.“
Mit diesen Worten verabschiedete sie sich und winkte uns noch kurz zu, bevor wir uns von ihr abwandten, um unsere Reise durch den Wald fortzusetzen.
Die Luft war frisch und angenehm kühl, hier und da fielen ein paar Sonnenstrahlen durch das dichte Blätterdach. Ich war satt und hatte gut geschlafen – mehr Ansprüche hatte ich mittlerweile gar nicht mehr, sodass ich munter neben Cuinn herstapfte.
„Du wolltest mir über Glenbláth erzählen“, erinnerte ich Cuinn, nachdem wir einige Minuten schweigend durch den Wald gelaufen waren. Am liebsten hätte ich ihn mit einem Haufen Fragen bombardiert. Gab es hier Hexenverbrennungen? Was hatte es mit den geköpften Babys auf sich? Wurden hier etwa unschuldige Neugeborene irgendwelchen zweifelhaften Gottheiten geopfert? Doch ich hielt es für sensibler, diese forschen Fragen für mich zu behalten und abzuwarten, was Cuinn mir von sich aus erzählen würde.
„Ich möchte nicht, aber ich denke, du wirst keine Ruhe geben, bevor ich es tue“, entgegnete Cuinn. „Du fragst dich vermutlich, ob in Glenbláth wirklich Neugeborene getötet und Menschen verbrannt werden.“
„Ja“, gab ich zu. „Ich finde die Vorstellung recht… grausam. Wieso würde man so etwas tun?“
„Aus Angst“, antwortete Cuinn. „Es gab mal eine Zeit, da lebten Menschen und magische Wesen friedlich miteinander. Sie unterstützten sich gegenseitig, waren befreundet, teilten sich ein Haus. Sie verliebten sich, gründeten Familien. Aus diesen Beziehungen gingen viele Halbblute hervor.“
„Du meinst, sowas wie zwischen dir und Lou war normal?“, fragte ich und versuchte erfolglos meine Verblüffung zu verbergen. Im selben Moment kam mir wieder in den Sinn, dass Cuinn genau genommen nicht einfach nur ein Mensch war. „Aber woher kommt dann die Angst der Menschen vor den magischen Wesen?“
Cuinn schüttelte den Kopf. „Man sagt, ein Feuergeist habe das Königshaus angegriffen. Man sagt, die magischen Wesen seien von Anfang an auf die Macht über die Menschen aus gewesen. Doch ich bezweifle das stark. Was interessiert die magischen Wesen Reichtum und Macht, wenn sie einen ganz Wald voller kleiner Wunder haben?“
Ich verstand. Die magischen Geschöpfe hätten so viel mehr als das langweilige Leben der Menschen haben können. Und trotzdem hatten sie ihr Leben mit ihnen geteilt. Sich sogar in sie verliebt.
„Die Bilder aus dem Buch, die du gesehen hast…“
Ich wurde wieder hellhörig.
„Es wurde den magischen Wesen verboten, in die Nähe der Menschen zu kommen. Sie wurden aus der Stadt vertrieben. Doch die meisten Halbblute blieben zurück. Die Menschen hatten Angst vor ihnen. Sie galten als Missgeburten, Risikofaktoren. Jedes Kind wurde auf seine Eltern geprüft und jedes Halbblut getötet. Verbrannt, ertränkt, geköpft. So mancher Säugling war bereits im Mutterleib zum Tode verurteilt.“
Ich erschauerte und mir fehlten die Worte. Gleichzeitig schämte ich mich in Grund und Boden dafür, dass ich am Frühstückstisch noch darüber gelacht hatte. Im nächsten Moment kam mir ein weiterer entsetzlicher Gedanke, der in mir ein noch größeres schlechtes Gewissen entfachte. Cuinns anscheinend schwere Vergangenheit, über die er nicht reden wollte, seine entsetzte Reaktion am Morgen, seine magischen Fähigkeiten – all das ließ mich zu einer Schlussfolgerung kommen. „Bist du ein Halbblut?“
Ich sah, wie Cuinn kaum merklich zusammenzuckte. Ich hatte recht. Und unweigerlich schwirrten neue Fragen durch meinen Kopf. Was war Cuinn eigentlich? Halb Mensch und halb was ? Was war ihm wohl in der Stadt zugestoßen? Hatte er auch verbrannt werden sollen? Wie war er entkommen? Ich wollte so viel fragen, aber traute mich nicht, irgendetwas davon auszusprechen.
„Meine Mutter war ein Mensch. Meinen Vater kenne ich nicht“, erzählte Cuinn.
Also wusste er vielleicht selbst gar nicht, was er war?
„Aber“, fuhr er fort, „ich wollte dir von Glenbláth erzählen und nicht von mir. Halbblute haben in der Regel keine schönen Geschichten zu erzählen. Wenn sie überhaupt noch welche erzählen können.“
Damit gab er mir mal wieder deutlich zu verstehen, dass er nicht weiter mit mir darüber reden wollte. Ich schluckte all meine Fragen endgültig hinunter und folgte ihm wieder stumm durch Geäst und Gestrüpp. Das ewige Schweigen ging mir auf die Nerven. Ich wollte mich mit ihm unterhalten, um mich von meinen schmerzenden Füßen abzulenken und die Langeweile zu vertreiben, aber allein Cuinns starr nach vorn gerichteter Blick verriet mir schon, dass er nicht zum Plaudern aufgelegt war. Als ich um die erste Pause des Tages bat, willigte Cuinn widerstandslos ein. Entweder er hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass ich mehr Pausen brauchte als er oder er musste heute selbst nach einer Nacht ohne Schlaf gut mit seinen Kräften haushalten. Ich breitete meinen Umhang auf dem moosbewachsenen Boden aus und wir setzten uns beide darauf. Cuinn öffnete den Rucksack, reichte mir eine Wasserflasche und bot mir Brötchen und Käse an. Ich war gerade etwas zur Ruhe gekommen und begann, unser kleines Mittagspicknick zu genießen, da sprang Cuinn völlig unerwartet auf und blickte sich hektisch um.
„Was ist los?“, fragte ich verwundert.
„Sag gleich am besten einfach nichts“, antwortete Cuinn und sah wachsam zwischen den Bäumen hindurch.
Als würde ich sonst viel dazu kommen zu reden. Vorausschauend packte ich unsere Vorräte wieder ein und band den Rucksack fest zu. Ich kam neben Cuinn auf die Beine, klopfte meinen Umhang aus und warf ihn mir um die Schultern, ehe auch ich endlich eine Gestalt zwischen den Bäumen ausmachen konnte.
„Was macht ihr beiden hier, so nah am Zentrum des Waldes?“, rief der Mann uns entgegen. Er schob mit der linken Hand die Kapuze seines braunen Gugels von seinem kahlen Kopf. Ein dunkler Vollbart verdeckte die Hälfte seines runden Gesichts und sein stämmiger Körperbau, gepaart mit der breiten Axt, die er bei sich trug, ließ ihn nicht wenig bedrohlich wirken. Er musterte uns von oben bis unten. „Ihr seht nicht aus wie Jäger. Also was treibt euch hierher?“
Ich beobachtete, wie Cuinn eine grandiose Unschuldsmiene aufsetzte und erst mir, dann dem Fremden einen verwirrten Blick zuwarf. „Zentrum? Herrje, da sind wir ja in eine ganz falsche Richtung gelaufen. Ihr könnt uns nicht zufällig den Weg zurück zur Stadt weisen?“
Misstrauisch beäugte der Mann Cuinn. „Es ist euch verboten, den Wald zu betreten. Ich sollte euch melden. Was bringt euch überhaupt auf die Idee, diesen gefährlichen Ort aufzusuchen?“
„Das ist alles meine Schuld“, platzte es aus mir heraus, woraufhin ich einen mahnenden Blick von Cuinn aufschnappte. „Ich war neugierig und habe ihn dazu überredet, mir den Wald zu zeigen. Und nun irren wir seit Tagen hier umher.“
Der Mann trat näher an Cuinn heran. Er war gut einen Kopf größer als der junge Magier. „Ein ganz schön törichter Versuch, das Herz eines Mädchens zu gewinnen.“ Er deutete in die Richtung, aus der Cuinn und ich gekommen waren. „Zurück zur Stadt müsst ihr dort entlang.“
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