„Du kennst ihn nicht. Der kriecht in allen Ecken rum, steckt seine Nase überall rein. Was ist jetzt, was willst du hier?“
„Einfach mal gucken, wie der Laden so läuft. Vielleicht brauchst du meine Unterstützung?“ Demonstrativ schiebt er die Hände in seine Hosentaschen, was an der Ernsthaftigkeit seines Hilfsangebots zweifeln lässt. Herausfordernd schaut er auf Karla herab.
„Ich brauche deine Hilfe nicht. Geh jetzt, bitte.“ Ängstlich dreht sie sich zu den Tischen um, sucht ihren Kollegen jedoch vergeblich. Hektisch lässt sie ihre Blicke auch über den Eingangsbereich schweifen, ohne Sven zu entdecken. „Du siehst doch, dass alles schon erledigt ist.“
„Alles ist erledigt? Na prima. Du hast es also gefunden. Dann brauchst du meine Hilfe tatsächlich nicht.“ Leichte Röte schießt Karla ins Gesicht, als sie merkt, dass sie den Mann falsch verstanden hat, wieder einmal. Blitzschnell fährt seine Hand nach vorne, fasst unter ihr Kinn und drückt ihren Kopf weit in den Nacken.
„Du hast es nicht. Sag das doch gleich. Was meinst du, wann ist es so weit?“
„Dräng mich gefälligst nicht so,“ quetscht sie mühsam zwischen den Zähnen hervor. Mit einem Ruck lässt der Mann ihr Kinn los, sodass ihr Kopf hart nach vorne kippt. Schmerzhaft verzieht sie ihr Gesicht. Aus den Augenwinkeln nimmt sie wahr, dass Sven Wiesner am Lagereingang aufgetaucht ist und sie erneut beobachtet.
„Du musst gehen, Rudi. Jeden Moment müssen Roswitha und Herbert hier auftauchen. Du kannst dich nicht unerkannt unter die Gäste mischen. Dafür kommen viel zu wenig. Hau endlich ab. Du machst alles kaputt.“ Mit Panik in der Stimme versucht sie Blickkontakt zu dem Mann herzustellen, der jedoch ausschließlich auf Sven Wiesner fixiert ist.
„Dann such weiter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es in der Wohnung versteckt hat. In die Wohnung einzudringen, ist viel zu riskant für mich. Es muss hier sein. Du bist an der Quelle.“
„Mensch Rudi, ich habe doch schon die Büros und den Werkstattbereich mehrfach abgesucht. Bist du dir ganz sicher, dass sie das Geld überhaupt hat?“
„Verlass dich auf mich. Sie hat es.“
„Und was ist, wenn sie es doch zur Bank gebracht hat? Warum denn nicht? Da ist es sicher, auf jeden Fall besser aufgehoben als hier irgendwo untergebuddelt.“
„Nee, einfach eben mal so zur Bank gehen, kann sie nicht und für gewieftere Transaktionen ist sie zu dusselig. Such nicht nur im Büro- und Werkstatttrakt. Es gibt hier doch genügend Anbauten, und die riechen geradezu erfolgversprechend. Du musst deine Suche ausdehnen. Stell dich nicht so blöd an.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schlendert er aufreizend lässig Richtung Straße.
Karla schaut dem Mann hinterher. Sie hat Angst vor ihm, fühlt sich jedoch gleichzeitig auf magische Art von ihm angezogen. Und sie braucht ihn, seine Kraft, seine Stärke, die auch vor Gewalt nicht zurückschreckt, sieht in ihm und dem ausstehenden Geld eine Chance, ihr Leben noch einmal in andere Bahnen zu lenken.
„Schön ist er ja nicht.“ Sven Wiesner betrachtet demonstrativ die Fassade über der Eingangstür, als hätten sich dort in den letzten Minuten wesentliche Dinge verändert. Nachdem er von seiner Kollegin keine Reaktion erfährt, schiebt er die nächste Äußerung hinterher.
„Ist wohl schon ziemlich alt oder täusche ich mich, macht das nur sein verlebtes Gesicht?“ Auch diese Provokation bleibt ohne Erwiderung. Seine Schultern straffen sich, seine rechte Hand kreist unruhig auf seinem Oberschenkel. Sven Wiesner ist irritiert. Vielleicht schwingt auch Enttäuschung über die beabsichtigte jedoch ausgebliebene Auseinandersetzung mit. Er dreht sich ruckartig um und prallt fast mit Karla zusammen. Sie grinst ihn abfällig an, hat sich unter Kontrolle, was ihr sonst nur im Umgang mit Kunden gelingt. Gemächlich nähert sie sich der Kochplatte, ergreift eine riesige Kelle und beginnt hingebungsvoll, die Suppe umzurühren. Sven beobachtet sie einige Sekunden, sucht nach Worten, mit denen er sie aus der Reserve locken kann.
„Er hat dir Angst gemacht, stimmt`s? Du hast Angst, dass du seinen Suchauftrag nicht erfüllen kannst. Die selbstbewusste, wandlungsfähige Frau hat Angst vor diesem Möchtegern. Na, na, Frau Tönns, das ist schon merkwürdig, aber auch interessant. Das musst du schon zugeben.“
„Was weißt du denn schon. Du hast doch überhaupt keine Ahnung. Ich nehme deine ständigen Intrigen, die du aus ekligen Schnüffeleien ableitest, nicht mehr ernst. Also verschone mich. Ich gebe dir aber noch einen Rat: Unterschätze ihn nicht. Du bist fünfundvierzig, er ist nur drei Jahre älter als du, hat aber mehr Erfahrung, als du in deinem gesamten Leben sammeln wirst. Halte dich besser fern von ihm und spioniere somit auch mir nicht hinterher.“
Sven hat die Heftigkeit, mit der Karla auf seine Provokationen reagiert hat, nicht überrascht. Er wollte es so, wusste, wie er sein Ziel erreichen würde. Der Inhalt ihrer Erwiderung löst bei ihm jedoch Verwirrung aus. Nachdenklich kaut er auf seiner Unterlippe.
„Sag mal, war das eine Drohung? Dabei wollte ich dir gerade einen Tipp für deine Suche mit auf den Weg geben. Und außerdem, was sagt eigentlich dein Mann Markus zu deiner Freundschaft mit diesem Typen?“
Seine Sätze verhallen ungehört. Karla ist bereits zur Parkplatzeinfahrt geeilt.
Ich habe es endlich geschafft. Im Zeitlupentempo verschließe ich hinter mir die Eingangstür und trete, von der Sonne geblendet, auf den Parkplatz.
Minutenlang habe ich im Werkstattbereich gelauert, bevor ich mich bis hierher vorgetraut habe. Verdeckt durch den hohen, verbeulten Werkzeugschrank konnte ich ungesehen die Szenerie auf dem Parkplatz beobachten. Es sind nicht viele Gäste erschienen. Jeden einzelnen Besucher habe ich aus meinem Versteck heraus taxiert. Alle sind mir ausnahmslos als Kunden bestens bekannt. Ich habe ihre individuellen Merkmale schon vor langer Zeit für mich gespeichert. Ich erkenne die unscheinbarsten Abweichungen. Sie können entscheidend sein, können etwas über die physische oder psychische Verfassung eines Menschen aussagen und verraten möglicherweise etwas über geplantes, zielgeleitetes Vorhaben der Person. Es war schwierig, durch die verdreckten Scheiben Feinheiten zu erkennen. Ich habe für mich notgedrungen entschieden, keiner Gefahr ausgesetzt zu sein. Es ist nicht erforderlich, dass ich Vorsichtsmaßnahmen für mich ergreife, noch nicht.
Es dauert einige Sekunden, bis sich meine Augen auf das grelle Licht eingestellt haben. Ich straffe meine Schultern in der Hoffnung, meinen kleinen, gedrungenen Körper dadurch etwas in die Höhe ziehen zu können. Gleichzeitig wird mir bewusst, dass es mir in dieser Pose schwerfällt, meinen fettleibigen Bauch einzuziehen. Frustriert nehme ich meinem Körper wieder die Spannung und meine Schultern sacken schlaff in ihre gewohnte Haltung.
Ich hatte erwartet, freudig begrüßt zu werden. Stattdessen wird von mir keinerlei Notiz genommen. Wahrscheinlich haben sie mein Erscheinen einfach noch nicht wahrgenommen. Ein schlechter Erklärungsversuch für meine Nichtbeachtung. Er grenzt an Selbstbetrug. Enttäuschung macht sich bei mir breit. Unruhe möchte von meinem Körper Besitz ergreifen und die Sicherheit verdrängen, die ich soeben zum Verlassen der Werkstatt mühevoll aufgebaut habe. Ich darf der Angst keinen Raum bieten, muss handeln. Vielleicht sollte ich ein paar Begrüßungsworte sprechen. Ich bin der Gastgeber. Ich stoße mich von der Eingangstür ab und mache zögernd einige Schritte in Richtung der aufgebauten Tische.
„Mensch Herbert! Wo hast du dich denn rumgetrieben? Wir warten hier schon eine Ewigkeit. Gib doch mal das Startzeichen. Wir sind schon kurz vorm Verhungern.“
Jochen Debel hat sich vor mir aufgebaut. In der rechten Hand hält er eine Bierflasche, die linke Hand hat er auf meine Schulter gelegt, nein, förmlich geknallt und unternimmt keine Anstalten, sie wieder zu entfernen.
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