Wachsam wandern meine Blicke durch den Raum. Verwundert nehme ich meinen Mitarbeiter Sven wahr, der vor dem alten Schrank meiner Frau steht und daran herumzuhantieren scheint. Er dreht mir den Rücken zu und zeigt keinerlei Reaktion, hat mich augenscheinlich nicht gehört. Auf Zehenspitzen schleiche ich mich näher an ihn heran. Und dann sehe ich es. In beiden Händen hält er einen großen Schraubendreher, den er in den breiten Spalt zwischen Tür und Rahmen geschoben hat. Kraftvoll und doch dynamisch schiebt er ihn Richtung Schloss.
„Was machst du da?“, brülle ich los. Sven fährt erschreckt herum. Der Schraubendreher poltert mit einem hohlen Knall auf die Steinfliesen. Seine Augen sind angsterfüllt weit aufgerissen. Aber schlagartig verändern sie sich, ziehen sich zusammen, geben seinem Gesicht etwas Hinterhältiges, Lauerndes. So kenne ich meinen Kollegen, versuche tagtäglich dagegen anzukämpfen, dass er mir zu nahekommt. Ich sehe ihm deutlich an, dass er nach einer Antwort sucht. Das dauert mir zu lange.
„Ich habe dich was gefragt.“
„Chef, es ist nicht das, wonach es aussieht.“ Seine Gesichtsmuskeln haben sich entspannt. Er fühlt sich wieder sicherer.
„Wonach sieht es denn aus?“
„Herbert, wollen wir uns doch nichts vormachen. Du glaubst, dass ich den Schrank aufbrechen möchte, klauen also.“
„Und? Willst du?“, unterbreche ich ihn seltsam gelassen.
„Der Schrank soll entsorgt werden. Ich wollte ihn ausräumen, damit ich ihn zerlegen kann.“
„Hat dir Roswitha den Auftrag erteilt?“
„Nein, aber der neue Schrank ist da, das alte Ding hier muss weg, und ich habe zurzeit nichts anderes zu tun, was du wüsstest, wenn du dich nicht in deinem Büro verkriechen würdest.“ Sven ist in die Rolle des Angreifers geschlüpft. Ich muss aufpassen.
„Warum hast du nicht gewartet, bis dir Roswitha den Schlüssel gegeben hat?“
„Mit dem Schlüssel klemmt das alte Monstrum doch auch ständig. Hast du nicht mitbekommen, wie Roswitha immer wieder mit Gewalt gegentreten muss, damit das Ding sich öffnet und sie ihre Reisetasche unterbringen kann?“
„Was für eine Reisetasche?“ Ich bin alarmiert. Die Reisetasche interessiert mich augenblicklich mehr als Svens versuchter Bruch. Er beobachtet mich triumphierend, hat geschickt von sich abgelenkt, hat die Oberhand gewonnen und das mit durchtriebenen Mitteln. Er weiß es, beherrscht seine hinterlistigen Spielchen perfekt. Verschwommen tauchen Bilder vom Kundenfest vor meinen Augen auf. Ohne Not hat er Markus auf Rudi angesetzt. Er war darauf aus, Zwietracht zwischen Karla und Markus zu säen. Versucht er jetzt dasselbe bei Roswitha und mir?
„Ich habe dich etwas gefragt.“
„Muss ich dir allen Ernstes berichten, was deine Frau so treibt? Wenn sie kommt, schließt sie die Tasche hier ein und wenn sie geht, holt sie das Ding wieder raus und nimmt es mit.“
Fassungslos wechselt mein Blick zwischen dem Schrank und meinem Angestellten hin und her. Ich versuche zu ergründen, ob seine Angaben der Wahrheit entsprechen und entdecke nur stoische Gelassenheit.
„Lass gut sein. Wir vergessen die ganze Sache, haben schließlich wichtigere Dinge zu erledigen. Ich gehe kurz in die Werkstatt zu Toni,“ grummele ich und drehe mich abrupt zur Seite. Svens siegesbewusstes Grinsen ist für mich unerträglich geworden.
Toni steht gebeugt über der geöffneten Motorhaube und pfeift eine mir unbekannte Melodie. Sein Anblick hat stets etwas Beruhigendes für mich. Mit seinen schlaksigen, unproportioniert langen Gliedmaßen wirkt er oft ungelenk, fast wie ein Kind, das sich im Längenwachstum befindet. Der an den Seiten nahezu kahlgeschorene Kopf entspricht dem neueren Modetrend. Die Frisur steht ihm nicht, zieht seinen dürren Kopf zu sehr in die Länge. Toni trägt es jedoch mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit. Als er sich aufrichtet und mich wahrnimmt, huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Er ist wie immer gut gelaunt. Ich beneide ihn darum, obwohl man seine Lebensphilosophie auch als oberflächlich bezeichnen könnte. Aber er ist noch jung, wird noch viele Erfahrungen sammeln und seine Sichtweise auf das Leben verändern.
„Hallo Chef, bin fast fertig. Wollte den Bericht vorhin bei Karla abgeben. Die war aber nicht am Platz. Wollen Sie ihn mit reinnehmen?“ Er wischt sich die Hände an dem Tuch ab, das am Bund seiner Arbeitshose baumelt, öffnet die Beifahrertür und beugt sich in den Wagen. Er ist von der Tür verdeckt. Ich kann ihn nicht mehr sehen. Er hat sich meinen Blicken entzogen.
Der Schmerz kommt unerwartet, zieht sich wie ein glühend heißes Inferno durch meinen Kopf, versucht, die Stimmen zu überlagern und verliert.
Der schrille Ton in meinem Kopf steigert sich ins Unerträgliche, übertönt die Stimmen, aber sie sind nicht weg, machen nur Pause, werden wiederkommen. Ich weiß es. Wild gestikulierend schlage ich um mich, möchte mich befreien. Meine Beine versagen.
„Herr Schnabel, um Gottes Willen, was ist mit Ihnen. Ich hole Hilfe. Warten Sie.“
Erschöpft sitze ich auf dem ölverschmierten Boden und starre in Tonis entsetztes Gesicht. Er hockt neben mir, springt auf und will die Halle auf der Suche nach Hilfe verlassen.
„Nein, warte, bleib hier. Ich brauche keine Hilfe. Wird gleich wieder,“ halte ich ihn im Befehlston zurück. Sofort steht er wieder neben mir, fasst mein Handgelenk und will mich zum Stand in die Höhe ziehen. Ich schlage mit der freien Hand auf seinen Arm. Sichtlich verstört lässt er mein Handgelenk los und weicht zurück. Ich taxiere ihn misstrauisch. Das Hetzgeschrei meiner Stimmen ist schon lange verstummt, die Sätze hallen jedoch nach. Die Anschuldigungen passen nicht zu den Erfahrungen, die ich mit Toni gemacht habe. Ich versuche, beides in Einklang zu bringen. Es gelingt mir nicht.
Vorsichtig betaste ich meinen Kopf. Er fühlt sich hohl, ausgebrannt, aber wieder halbwegs schmerzfrei an. Umständlich stemme ich mich auf die Beine. Mein rechter Fuß schmerzt. Wahrscheinlich habe ich mich leicht verletzt, als ich mich auf den Boden geworfen habe. Mit schleppenden Schritten nähere ich mich dem Ausgang. Toni geht neben mir, achtet aber darauf, einen gebührenden Abstand einzuhalten. Sein Gesicht spiegelt Unsicherheit wider. Ich weiß nicht mehr, was ich von ihm halten soll.
Abwartend stehe ich im Empfangsbereich. Es ist mir unangenehm, dass ich meinem Mitarbeiter so ein Schauspiel geboten habe. Aber auch Toni ist peinlich berührt, weiß nicht, wie er sich mir gegenüber verhalten soll. Karla ist immer noch nicht aufgetaucht. Auch Sven ist wie vom Erdboden verschluckt. Mit steifen Bewegungen nähert sich Toni Karlas Tisch, sucht umständlich nach einem Stift und unterschreibt sein Arbeitsprotokoll. Ich beobachte ihn, wie er seinen Rücken krümmt, den Stift mit verkrampfter Hand über das Papier hetzt. Es ist deutlich zu spüren, dass er schnell weg möchte, weg aus diesem Raum, weg von meiner Nähe. Ich kann es ihm nicht verübeln. Oder hat er mich bewusst zu meinem Anfall getrieben? Wodurch? Angestrengt lauschend warte ich auf eine Antwort, aber die Stimmen in meinem Kopf schweigen. Toni hat sich wieder umgedreht, vermeidet es krampfhaft, mir in die Augen zu sehen. Warum geht er nicht endlich?
„Du kannst für heute Schluss machen, Toni,“ bringe ich mühsam die erlösenden Worte hervor. Dankbar schaut er mir nun doch ins Gesicht und ringt sich ein zaghaftes Lächeln ab.
„Ja, danke Chef. Und morgen dann alles beim Alten?“
„Was?“, fahre ich ihn gereizt an.
„Ich meine, morgen nur die eine angemeldete Inspektion. Oder ist noch ein Wagen dazugekommen?“
„Wir werden sehen.“ Wie konnte ich seine Frage nur auf meine körperliche Verfassung beziehen?
„Ja dann.“ Mit eiligen Schritten, fast laufend, stürmt Toni aus dem Gebäude. Nachdenklich schaue ich ihm hinterher.
Читать дальше