Kurz hebt Vivien den Kopf.
»Nö«, meint sie knapp und schwingt unbeirrt weiter den Besen.
Luisa schlägt mit der flachen Hand auf den Gartenzaun, sie kann solch ein Desinteresse einfach nicht fassen, und weiß im Moment nicht, wie sie darauf reagieren soll. Vivien hat ihr sozusagen den Wind aus den Segeln genommen. Luisa hätte zu gerne vor ihr damit geprahlt, wie lange sie sich mit dem wunderbaren Kerl unterhielt, vor allem, wie lange sie über ihre schöne, schwarzhaarige Nachbarin mit ihm redete. Aber vielleicht ist die Idee nicht so gut, überlegt sich Luisa, vielleicht wird Vivien doch noch ärgerlich, wenn sie das erfährt.
Unschlüssig, was sie jetzt tun oder sagen soll, bleibt Luisa einfach am Gartenzaun stehen und sieht der kehrenden Schönheit zu.
*
Auch etliche Meter weiter blickt jemand auf das schwarzhaarige Mädchen und ihre dicke Nachbarin, die fast den Zaun mit ihrem massigen Körper niederdrückt.
Im obersten Stockwerk, des sogenannten Orangen , steht jemand und beobachtet die Szenerie durch das geschlossene Fenster. Eine weiße, dichte Gardine schützt ihn, vor allzu neugierigen Blicken.
Wie eine Statue steht er hinter dem Fenster, kein Muskel an ihm rührt sich, kein Atemzug bewegt seinen Brustkorb. Wie aus Stein gehauen steht er dort, nur seine scharfen Augen zucken leicht, als er jede Bewegungen der beiden Nachbarinnen beobachtet.
Es ist finster in dem kleinen Zimmer. Hinter ihm sitzt jemand in einem Sessel und liest ein Buch. Trotz der Dunkelheit, die in dem Zimmer herrscht, huschen seine bernsteinfarbenen Augen über die Seiten, er braucht scheinbar kein Licht.
Micki, der am Fenster steht, runzelt plötzlich seine Stirn, wendet etwas den Kopf und sagt, ohne die beiden Frauen aus den Augen zu lassen.
»Sie ist wirklich hübsch, die Kleine. David, komm mal her und sieh sie dir an.«
David legt aufseufzend sein Buch auf die Armlehne des Sessels, stemmt er sich mit übertriebener Langsamkeit hoch und geht gemächlich zum Fenster. Er ist groß und schlank, geschmeidig in seinen Bewegungen, jeder Muskel sitzt an der richtigen Stelle, kein Gramm Fett. Ein feingeschnittenes Gesicht, kurze, braune Haare, perfekt gepflegt. Ein Typ, nach dem sich jede Frau umdrehen würde, ein Mann, der auf das Titelblatt eines Lifestyle Magazins gehört, möglichst nur in Unterwäsche fotografiert.
David legt Micki freundschaftlich den Arm locker um die Schultern und blickt ebenso aus dem Fenster.
Micki ist nur ein Stück kleiner als er, ansonsten könnten sie Brüder sein. Auch Micki ist der Traumtyp schlechthin, ein Kerl, einem Adonis gleich.
Selbst wenn man die Unverschämtheit besäße, danach zu suchen, man würde keinen Makel an ihm oder David finden. Beide sind einfach nur … perfekt.
David grinst frech und entblößt eine Reihe ebenmäßiger, strahlendweißer Zähne.
»Welche ist es denn von den beiden? Die Dicke?«
Micki wirft ihm einen raschen, ärgerlichen Seitenblick zu.
»Nein, die kleine Schwarzhaarige.«
David wiegt seinen Kopf hin und her.
»Hm, du hast aber auch immer ein Glück. Die sieht köstlich aus, zum anknabbern lecker.«
»Ja, finde ich auch«, meint Micki munter.
»Ich gehe jetzt runter und werde mich ihr vorstellen. Und du, mein Freund, wirst mitkommen.«
»Ich? Warum in aller Welt?«, fragt er, »sie ist dein Auftrag, nicht meiner.«
»Ja, das schon, aber es soll zufällig aussehen. Komm, wir tun so, als drehen wir unsere Nachmittägliche Joggingrunde. Wir sehen wie zwei Sportler aus, im Moment, da fällt das nicht weiter auf.« Micki steht schon mitten in dem dunklen Zimmer und winkt David zu sich.
»Los komm schon. Bevor sie wieder reingeht.«
Ein gequälter Ausdruck erscheint in Davids schönem Gesicht. Bewegen, das ist so gar nicht nach seinem Geschmack, lieber würde er wieder im Sessel sitzen und in seinem Buch lesen.
Aber Micki ist sein Freund, schon viele Jahre, und er hat recht, sie sehen wirklich wie zwei Sportler aus.
Enge T-Shirts, Jogginghosen und Turnschuhe, einfach perfekt. Ungeduldig wartet Micki auf ihn an seiner Wohnungstüre. So eilig hat er es aber auch selten, überlegt David, na ja, sie ist es wohl wert. Lächelnd geht er hinter Micki her.
*
Luisas Gedanken kreisen immer noch um den tollen Mann in dem Orangen und wie sie ihn Vivien schmackhaft machen kann. Da bemerkt sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung, ihr Kopf ruckt herum. Die Augen werden groß, der Mund bleibt ihr offen stehen, ein strahlendes Grinsen überzieht ihr Gesicht. Da kommt sie ja, die Chance auf die sie gewartet hat.
Micki und scheinbar ein Freund, der ihm in punkto Aussehen in nichts nachsteht, joggen langsam die Straße hinunter.
Luisa dreht sich rasch wieder zu Vivien um.
»Da kommt er, mit noch einem. Jetzt schau ihn dir bloß mal an«, zischt sie über den Gartenzaun hinweg, dem verträumt vor sich hin kehrenden Mädchen zu.
Vivien hebt erschrocken ihren Kopf, sie war ganz in Gedanken versunken und hatte ihre Nachbarin schon fast vergessen. Ein schneller Blick über die Schulter zeigt ihr, dass sie keine Möglichkeit zu einer Flucht hat.
Verdammt, denkt sie, jetzt treffe ich doch mit diesem Kerl zusammen. In Gedanken wünscht sie Luisa die Pest an den Hals. Sie stützt sich wieder auf ihren Besen und überlegt:
Ich muss das hier nur hinter mich bringen, dann hab ich in Zukunft wohl auch Ruhe vor ihren Verkupplungsversuchen.
Nun schon viel gelassener erwartet sie die Dinge, die auf sie zukommen werden.
Luisa wendet sich unterdessen den zwei Joggern zu, die nur noch wenige Meter von ihnen entfernt sind und flüstert zwischen den zusammengebissenen Zähnen in Viviens Richtung:
»Der mit dem weißen T-Shirt ist es.«
Dann grinst sie über das ganze Gesicht, hebt die Hand und ruft laut:
»Hallo Herr Nachbar, schöner Tag für einen Lauf.«
Micki und David halten vor ihr an und atmen einmal schnaufend aus. Micki streckt Luisa seine Hand entgegen, die sie sofort freudig ergreift.
Dann erklingt seine samtige und ruhige Stimme.
»Guten Tag, Luisa. Sie sehen, wie bereits heute Morgen, einfach bezaubernd aus.«
Obwohl es erst ein paar Stunden her ist, das sie die letzten Worte mit ihm gewechselt hat, kann sie sich ein wohliges Aufseufzen nur mit Mühe verkneifen. Seine Stimme trifft sie in ihrem Innersten, bringt ihr Blut in Wallung, befördert verschollen geglaubte Gefühle an die Oberfläche. Wann hat jemand sie das letzte Mal als »bezaubernd« bezeichnet, fragt Luisa sich. Das ist mindestens schon dreißig Jahre her. Sie muss sich zusammenreißen, um nicht, wie ein kleines Mädchen, in hysterisches Kichern zu verfallen.
Micki hält noch ihre Hand fest, sie wünscht sich, er möge sie nie wieder loslassen.
Dieser warme und feste Griff, wie mag er sich nur woanders auf ihrem Körper anfühlen, fragt sie sich kurz, da lässt er ihre Hand los und das seltsame, lüsterne Gefühl ist vorbei.
»Das ist mein Freund, David«, Micki legt ihm kurz die Hand auf die Schulter.
»Wir wollten gerade ein bisschen laufen gehen. David, das ist Luisa, mit Abstand die netteste und hilfsbereiteste Person hier in der Siedlung.« Er lächelt leicht.
David lehnt sich ein wenig nach vorne und reicht ihr die Hand.
»Freut mich, Luisa«, auch seiner Stimme fehlt es nicht an Wärme, obwohl sie eine Spur rauer ist als Mickis. Das macht sie nicht schlechter, ganz im Gegenteil.
»Hallo David«, murmelt Luisa und versinkt fast in den bernsteinfarbenen Augen, sie muss sich mit Gewalt von seinem Gesicht losreißen. Sie zwinkert, räuspert sich und plötzlich fällt ihr ein, dass sie nicht alleine mit diesen zwei unglaublichen Kerlen hier am Gartenzaun steht.
»Entschuldigung«, murmelt sie und räuspert sich erneut.
»Dies ist meine Nachbarin und gute Freundin Vivien. Sie hatten sie, vermute ich, heute Morgen nicht angetroffen, Micki.« Es ist mehr eine Feststellung, als eine Frage. Luisa weiß es nämlich ganz genau, da sie am Morgen jede seiner Bewegungen durch ihr Küchenfenster beobachtet hatte, nachdem er sich bei ihr vorgestellt und gegangen war.
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