Vor sich sieht sie schon ihr Elternhaus, alle Fenster sind noch dunkel.
Gut, so brauche ich meinen Eltern keine Erklärung abzugeben. Ellen geht schneller, sie freut sich schon auf ihr warmes, kuscheliges Bett.
Nur noch der kurze Feldweg entlang, dann ist sie zu Hause.
Plötzlich ein leises Geräusch, ein Knacken. Ellen runzelt ihre Stirn und dreht vorsichtig den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kommt.
Sie sieht erst nur die Bäume, deren schwarze Stämme verschwimmen zu einer dunklen Masse. Da leuchtet etwas auf, zwei rotglühende Punkte. Ein leises Grollen ist zu hören, so als wenn sich weit entfernt ein Gewitter zusammenbraut.
Das Grollen schwillt an, wird lauter. Das alles geschieht in einer rasenden Geschwindigkeit. Ellen hat nur den Fuß angehoben, um einen weiteren Schritt auf ihr sicheres Bett zuzugehen. Sie hebt den anderen Fuß, für einen erneuten Schritt, da prescht etwas durch die Bäume auf sie zu.
Es springt einfach aus der schützenden Dunkelheit heraus. Ellen reißt erschrocken ihre Augen auf, sie ist unfähig sich zu bewegen, ihr Fuß scheint in seiner Bewegung eingefroren zu sein.
Das Monster schlingt seinen langen Cauda, seinen Schwanz, um Ellens Mitte, zieht ihn unbarmherzig enger zu.
Sie öffnet den Mund, will schreien, ihre Angst, die Panik einfach hinaus kreischen.
Aber das Monster hat ihr schon den Brustkorb zerquetscht, ihr bereits die Luft abgeschnürt. Kein Laut dringt aus dem jungen Mädchen, nur ihre Augen quellen, vor Furcht, nahezu über.
Dieses elendige Ding hat hier auf mich gewartet, denkt sie noch, dann erklingt selbst in ihren Gedanken nur noch ein lauter Schrei.
Das Monster reißt das Maul auf, Ellen könnte jetzt die unzähligen, spitzen Zähne sehen, wenn das Mädchen noch in dieser Welt weilen würde.
Die Zehnjährige ist aber mit einem Blick in diese unwirklichen, glühenden Augen und auf den klobig wirkenden Monsterkörper, schlagartig in das Reich des Wahnsinns hinab getaucht.
Sie wird niemals wieder an die Oberfläche gelangen, weder in dieser Welt, noch in der Nächsten.
Kein Laut kommt über ihre Lippen, keine Regung ist zu sehen, als das unheimliche Ding seine Zähne in ihre Schulter schlägt. Das helle Blut spritzt nach allen Seiten davon, übersät den jungfräulichen Schnee mit roten Tupfen.
Es knirscht und knackt, es kracht und kaut. Zermalmt ihre Knochen zwischen den starken Kiefern.
Das Monster scheint sein nächtliches Mahl zu genießen.
Erst als das kleine Mädchen gänzlich aufgefressen ist, kehrt wieder Ruhe ein.
Das merkwürdige Wesen wendet sich ab und verlässt den gruseligen Schauplatz.
*
Der Vollmond erscheint plötzlich hinter der milchigen Wolkenwand, bescheint unschuldig die blutige Szenerie.
Der bläuliche Feenring, um ihn herum, deutet einen neuen Schneefall an, und es soll noch kälter werden.
Kälter als die Augen des Monsters blicken können, eisiger, als sein Atem je sein wird.
Die Temperatur aber, wird niemals so drastisch fallen, dass sie sich mit der inneren Kälte messen könnte, die ein anderes kleines Mädchen in diesem Augenblick in sich fühlt.
Es presst eine Hand auf den winzigen Mund, die Augen darüber quellen ihr fast aus den Höhlen. Sie hat alles mit angesehen, hat erlebt, wie ihre große Schwester Ellen gerade von einem Monster verschlungen wurde.
Vivien ist vor zwei Tagen sechs Jahre alt geworden. Sie konnte heute Nacht schlecht schlafen, da die Aufregung über ihre Geschenke noch nicht abgeebbt ist.
So hat sie das hektische Wegrennen ihrer Schwester bemerkt und ist ihr gefolgt.
Wenn sie vorher gewusst hätte, was sie hier draußen im Schnee erwartet, sie hätte sich ihre Decke über den Kopf gezogen und den Morgen abgewartet.
Erst als sich Vivien ganz sicher ist, das dieses Scheusal nicht wiederkehrt, traut sie sich, die Hand von ihrem Mund zu nehmen.
Es vergeht nur ein Wimpernschlag, dann kreischt sie los.
Den Blick fest auf den zertrampelten Boden und die wenigen Blutspritzer gerichtet, schreit sie ihre Angst einfach hinaus.
Ein paar Meter weiter, in Ellens und Viviens Elternhaus, gehen im obersten Stockwerk die Lichter an.
Leichtfüßig geht es über das zugeschneite Feld, es berührt den Boden kaum, hinterlässt keine deutlichen Fußabdrücke.
Seinen langen, dünnen Cauda hat es sich locker um die Hüften gelegt, er müsste ihn sonst hinter sich her schleifen. Die pelzige Spitze wippt bei jedem seiner Schritte im Takt.
Aus einiger Entfernung könnte man meinen, es stapfe ein Mensch durch den Schnee.
Wenn sein Kopf nicht wäre, dieser stierartige Schädel mit langen Hörnern, die aus der breiten Stirn ragen. Die Nüstern blähen sich immer wieder, aber es entstehen keine Atemwolken vor dem Maul des Halbstieres. Die Luft aus den Lungen ist zu kalt, es ist nichts an ihr, das kondensieren könnte.
Sein breiter, muskulöser Oberkörper ist nackt, jeder Muskel, jede Sehne ist durch die rotbraune Haut sichtbar. Am Ende der starken Arme haben sich lange Krallen gebildet, mit ihnen kann das Monster seine Beute packen und festhalten.
Die schlangengleichen Augen glühen bernsteinfarben, nur wenn es bereit zum Angriff ist, dann leuchten sie glutrot. Jetzt wirken sie völlig normal, ja fast schon menschlich. Die Beine stecken in Jeans und an den Füßen trägt es Converse Chucks.
Von der Gürtellinie abwärts sieht es ganz so aus, wie ein Mensch, ein Mann.
Aber es ist ein Semibos, ein Halbstier, ein Monster, ein Biest und Menschenfresser.
Mit dem Kopf eines Stieres, dem Oberkörper eines muskulösen Mannes. Ein langer, peitschenartiger Schwanz, der Cauda. Der Rest von ihm ist menschlich.
Der Semibos bewegt sich ein wenig schneller, er beginnt zu laufen. Während er die Arme hochnimmt und pumpend die Luft aus seinem Körper stößt, verwandelt er sich zurück. Er nimmt eine Körperform an, die es ihm erlaubt, sich frei zu bewegen.
Damit er nicht so auffällt, in dieser Welt…
Aber seine wahre Gestalt ist noch vorhanden, sie ist nur verborgen. Würden wir den Semibos anblicken, sähen wir einen jungen Mann, mit kurzen, braunen Haaren und einem freundlichen Gesicht.
Nur die bernsteinfarbenen Augen wirken vielleicht zu starr, sein Körper, etwas zu perfekt.
Der Stierkopf, die Muskeln und der Cauda sind nur trübe, wie ein schwacher, dunstiger Schleier umgeben sie immer noch seinen Körper.
Sie sind nur sichtbar, für denjenigen, der es sehen will.
Aber, … wer will das schon.
Stille herrscht in der Siedlung, eine fast schon unheimliche Stille.
Immerhin ist es Samstagnachmittag, sollte die Luft nicht vor Kindergeschrei erzittern? Sollten die männlichen Nachbarn nicht ihre neuen Autos waschen, sie polieren und damit angeben? Die Frauen hier, müssten sie nicht draußen die Rosen oder andere Büsche schneiden, mit der Nachbarin tratschen oder auf ihren schicken Terrassen Kaffee aus teuren Tassen trinken?
So sollte es eigentlich sein, in einer Vorstadtsiedlung.
Wie gesagt, in einer normalen Siedlung, aber nicht hier. An diesem Ort ist alles anders, hier herrscht Samstagnachmittags eine unheimliche Stille.
Ganz plötzlich erklingt ein leises Geräusch, ein Kratzen und Schaben. Ein kehrender Besen.
Das letzte Haus in der kleinen Straße, wo der Feldweg gleich daneben anschließt, dort wagt es jemand die Stille zu durchbrechen.
Irgendwer kehrt seine Einfahrt. Gleichmäßig und monoton erklingt das schabende Kratzen.
Plötzlich kommt ein zweites hinzu, eine Haustür wird geöffnet, gleich nachdem jemand hindurchgetreten ist, schließt sie sich mit einem lauten Rums. Dann ist wieder nur das schabende Geräusch des Besens zu hören.
Noch an ihre Tür gelehnt, beobachtet Luisa die kehrende Person von gegenüber.
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