In diesem Fall allerdings auf meine Kosten. Erbost riss ich Zweige ab, schleuderte sie runter und hüpfte wild auf und ab. Dabei rutschte ich plötzlich auf einem Moospolster aus und fiel geradewegs aus dem Baum, einem der Küken direkt auf den Rücken. Es war ausgerechnet das, das den Stein geworfen hatte. Wir wälzten uns überrascht auf dem Boden und schrien beide vor Furcht. Ich trat mit beiden Hackenspornen zu und bohrte einen davon tief in die Schulter meines aufheulenden Opfers. Dann schnellte ich hoch und sprang zurück in meine Weide, wo ich mich entsetzt verkroch. Die Blauen-Küken kreischten jetzt alle laut. Sie hatten mich nur gesehen, als ich gerupft, gehäutet und gebadet in meinem Käfig lag. Nun war ich wie ein lebender Blätterhaufen auf sie gefallen oder auch über sie hergefallen. Das Küken, das ich mit meinen Spornen verletzt hatte, lag brüllend auf dem Boden, dabei tropfte klare Flüssigkeit aus seinen Augen und lief über das Gesicht. Die Wunde blutete stark. Auf das Geschrei hin rannten mehrere Erwachsene herbei. Sie besahen sich die Verletzung und beruhigten die Nestlinge. Ich konnte verstehen, wie einer sagte. „Guter Wachposten hin oder her. Wenn es so weiter geht, wird noch einmal jemand ernsthaft verletzt werden. Wir sollten reden.“ Ich freute mich, vielleicht würde sich durch eine Veränderung eine Gelegenheit zur Flucht ergeben.
(Spurschnüffler: Großer Fresser. Langsam, behäbig und unaufhaltsam folgt er einer Spur. Er ist blind und taub, verfügt aber über einen extrem guten Geruchssinn. Er saugt seine Opfer aus. Optisch ähnelt er entfernt einem kurzbeinigen, langnasigen Tapir mit mächtigen Klauen. Aus seinem Griff zu entkommen scheint unmöglich. Seine Haut ist fast unzerstörbar. Seil aus Spurschnüfflerhaut hergestellt, ist deshalb sehr gefragt.)
Kapitel 4: Über Frustfressen und vom Zauber des Flötenbambus
Ein paar Tage später versuchten sie, mich aus der Hirtenweide zu holen. Da niemand zu mir in den mächtigen Baum wollte, versuchten sie das Spurschnüfflerseil, an das ich gefesselt war einzuholen. Unter großem Geschrei und Geschnaufe zogen sie doch tatsächlich einen der gewaltigen Äste ein Stück zu sich herab. Ich hatte meine Laufleine mehrere Male fest um ihn herum geschlungen. Schon glaubte ich, der Ast würde brechen und einige von ihnen erschlagen, da bemerkten sie, womit sie sich abplagten. „Es muss doch etwas Intelligenz besitzen, oder glaubt ihr, das ist nur ein Zufall?“ hörte ich eine Bläut sagen. „So bekommen wir das Huhn niemals aus dem Baum.“ Ja und dann, ohne viel Aufwand, hungerten sie mich einfach aus. Nach einer Woche magere Fliegen und Raupenkost und Übelkeit erregender Plattwürmer war ich so gierig, dass ich, obwohl ich es besser wusste, im Dunkeln leise herunterstieg, um mir den frisch gefüllten Napf vom Boden zu schnappen. Eine ihrer Schleuder-Netzfallen schnappte zu und hilflos lag ich bis zum Morgen, in dem Tauwerk verheddert, auf dem Boden. Sie hatten es nicht mal für nötig gehalten eine Wache aufzustellen.
Keiner in Ort wollte mich dann aus dem Netz herausholen. Sobald sich jemand näherte trat und schnappte ich wild um mich herum und stieß drohende Laute aus. Zu viert gelang es ihnen schließlich, mich festzuhalten, ja, ich war deutlich stärker als zum Zeitpunkt meiner Gefangennahme, - und mit einem geschärften Zeffallozahn schnitten sie mir die Fessel von meinem Bein. Anschließend schleppten sie mich mitsamt dem Netz zum Dorfteich und warfen mich ins flache Wasser. Dort wurde ich unter allgemeinem Geschrei hin und her gezerrt, im Netz gespült und über den Sand gezogen, solange, bis sich meine selbst konstruierte Blätterbefiederung und Sporenbewaffnung vom Körper löste und auf dem Tümpel trieb.
Abermals gerupft und gedemütigt, nackt, wie ein frisch geschlüpftes Küken zappelte ich halbersoffen im Netz und spuckte Wasser. Da mich noch immer niemand anfassen wollte hängten sie mich mitsamt Netz zum Trocknen in die untersten Äste der Hirtenweide. Dort schwang ich leise im Wind und versuchte keinen von ihnen anzusehen. Ihre nackten Gesichter machten mir Angst. Am Abend steckten sie mich, verschnürt wie ich war, in einen Käfig und gaben mir ein Messer, damit ich mich aus dem Netz schneiden konnte. Das Messer musste ich schließlich gegen Nahrung zurücktauschen.
Es begann eine schwere Zeit, in der ich glaubte, langsam verrückt zu werden. Mein Käfig war ungefähr so groß wie ein Legenest. Ich konnte mich bequem einmal lang auszustrecken. Dauernd schob jemand etwas zu Essen zwischen die Stäbe, denn ich war nun im Haus des Kollektivs untergebracht. Hier wurde je nach Lust und Laune gemeinsam gegessen und geredet. Hier trafen sich die Orter, wenn es etwas zu klären gab, Entscheidungen getroffen werden mussten oder man einfach die Gesellschaft anderer suchte.
Da ich nichts anderes zu tun hatte, aß ich ständig die Häppchen, die mir zugesteckt wurden, beobachtete und lernte dabei die Sprache der Bläut und auch die Sprache der Stelzenläufer immer besser zu verstehen, ohne dass ich bewusst zuhörte. Meine Notdurft musste ich völlig ungenutzt, in einen wasserdichten, mit einem Deckel versehenen Korb verrichten. Jeden Morgen wurde der Korb ausgewechselt. Die meiste Zeit lag ich zusammengekauert in einer der Käfigecken und träumte vom Schwarm: spielte mit anderen Küken Wipfelspringen, suchte nach schmackhaften Kleinigkeiten in den Baumkronen, sang am Abend mit Gaak und Tekel und ließ mich vom Wind schaukeln und von den Strahlen der Tagesplaneten wärmen. In Zeiten der größten Einsamkeit verkroch ich mich zwischen Gaias Federn.
Dann kam Knäcksta zurück! Die vertrauten Laute vor meinem Käfig brachten mich dazu, nach langer Zeit wieder jemanden in die Augen zu schauen. Knäcksta öffnete meinen Käfig, ergriff ohne zu zögern meinen Arm und zerrte mich heraus. Ich konnte kaum stehen. Der lange Aufenthalt im Käfig, hatte meine Muskeln schrumpfen lassen. Schwächlich versuchte ich nach dem Stelzenläufer zu schlagen, entlockte Knäcksta damit aber nicht mehr als ein unwirsches Knacken. Er hob mich hoch und trug mich hinaus in das Tageslicht, um mich dort gründlich zu betrachten. „Du grantige, kleine blaue Henne, du bist ja doppelt so schwer geworden. Von einem Extrem ins andere. So gut im Futter, dass es schon viel zu gut ist. Ich glaube fast, ich werde dich rollen müssen.“ Im Gegensatz zu seinen Worten nahm Knäcksta mich erneut mühelos auf und trug mich in den Flötenbambushain. Der Hain war das Wohnnest aller Stelzenläufer von Ort. Sie bogen das lebende Rohr, das lang und horstig wächst, und verflochten es mit Hilfe reißfester Gräser. Daraus war nach und nach ein eindrucksvoll großer, hoher Bau entstanden, den das Licht mit warmen, hellen Strahlen durchflutete. Grasteppiche bedeckten die Erde und Blättervorhänge trennten die verschiedenen Räume voneinander. Sanft bewegten sie sich beim leisesten Lufthauch. Wind erzeugte im Flötenbambus kaum hörbare Töne, die zu einer leisen Klangflut verschmolzen. Das Bauwerk bezauberte mich. Ich kannte ähnliches aus den Schlafnestern des Schwarms. Auch dort gab es Künstler, die den Flötenbambus ins Nest einflochten und ihm mit Hilfe des Windes die unterschiedlichsten Melodien entlockten.
Der Stelzenläufer setzte mich auf einen hohen Tisch und sah mir eindringlich in die Augen.
„Höre Blau-Henne, du hast bis heute nichts und niemanden hier in Ort akzeptiert. Du bist gefangen, obwohl dich niemand gefangen halten möchte. Das, was passiert ist, lässt sich nicht ändern, aber was vor dir liegt, kannst du beeinflussen.“ Knäcksta beugte sich zu mir vor „Denke darüber nach.“ Eindringlich blickten die großen Facettenaugen mich an.
Ich starrte zurück. Mein Gesicht spiegelte sich. Dutzendfach ein nacktes, blaues, fremdes Gesicht. Es machte mir Angst. Unwillkürlich schlang ich meine Arme um den Stelzenläufer und presste mich fest an das harte Wesen. Von mir selbst überrascht zuckte ich zurück, schaute zu Boden und schlenkerte verunsichert mit den Beinen. Knäcksta wich ebenfalls zurück und begann unverständliches zu knattern. Dann drehte er sich um und verließ den Raum. Ich blieb zurück, auf meinem Tisch. Jetzt hatte ich ein Problem.
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