„Hast du Lust auf einen Besuch in die Kantonsbibliothek?“
„Kleiner Betriebsausflug - warum nicht“, schwärmte Marina.
„Okay – ich werde uns noch schnell in der Bibliothek anmelden. Bin gleich wieder zurück.“ Kurze Zeit später stand er wieder euphorisch im Büro und setzte sich an seinen Schreibtisch.
„Alles erledigt. 13.00 Uhr werden wir erwartet. - Was sagen eigentlich die Zeugenberichte aus der Kartause, Marina? Wurde Frau Hälfenberg tatsächlich von keinem einzigen Menschen gesehen, bevor sie im Priorat erschien? Ich denke, sie muss doch irgendwie in die Anlage gekommen sein“, sagte Alexander und sah aus dem Fenster über den Marktplatz.
„Abgesehen von der Sekretärin aus der Kartause und von Peter Lüscher, der sie gefunden hat, gibt es keine. Die Befragungen blieben erfolglos. Sie ist niemandem aufgefallen, und das, obschon sie in dieser auffälligen Kleidung unterwegs war.“
„Wer hat die Zeugenbefragung gemacht? Hast du die Unterlagen?“, er drehte seinen Bürostuhl in den Raum. Schweigend überreichte ihm Marina das Dossier.
„Tatsächlich. Offensichtlich hat sie an dem Tag niemand gesehen“, sagte er und blätterte er in den Papieren.
„Verstehe ich auch nicht ganz. Eine Frau wie die von Hälfenberg und dazu noch in Mittelalterkleidung mit einem Kind in einem kleinen Bündel fällt doch unweigerlich auf“, erwiderte Marina.
„Vielleicht eben nicht in der Umgebung der Kartause. Die Menschen glaubten vielleicht an einen Anlass.“
„Könnte schon sein, aber vielleicht hatte sie sich erst innerhalb der Kartause umgezogen. Das fällt nicht auf in der Museumstoilette. Es fragt sich dann aber, zu welchem Zweck?“, warf Marina nachdenklich ein.
„Hast du den Wagenschlüssel? Ich glaube, wir haben vor dem Bibliotheksbesuch in der Kartause etwas nachzuholen.“
„Du fährst Marina, wenn schon, dann möchte ich diesmal die Umgebung genießen“, sagte er und grinste sie an.
Schnell waren sie auf dem Parkplatz vor dem Polizeigebäude und im Wagen. Quietschend fuhr das „Wilemerbähnli“ langsam an ihnen vorbei. Endlich wechselte die Signallampe auf freie Fahrt. Es ging über den Kreisel und vorbei am Postgebäude. Schwungvoll unterquerten sie die Unterführung beim
Bahnhof zum Lindenwegkreisel.
„Mir dreht sich in der Unterführung jedes Mal fast der Magen“, stöhnte Marina.
„Bei mir ist es gerade umgekehrt. Ich fahre hier gerne mit Schwung“, sagte Alexander und lachte.
Umgehend waren sie auf der Rheinstraße am Schaffhauser Kreisel. Schnell war er überquert und in die Thurstraße wieder verlassen. An der neuen Kaserne vorbei bogen sie beim Findling rechts ab in die Weststraße.
„Das ist nicht gerade meine Lieblingsstelle. Wie viele Motorradfahrer hier wohl schon ihr Leben verloren haben? Das Bild des jungen Mannes vom letzten Sommer bringe ich nur schwer aus meiner Erinnerung.“
„Nimmst du die Polizeipsychologin nicht in Anspruch?“, erkundigte sich Alexander erstaunt.
„Ich kenne sonst eine gute Psychologin in der Nähe von Frauenfeld, wenn du diesbezüglich Hilfe brauchst.“
„Nein danke. Ich habe meine eigenen Methoden, nett von dir“, sie überquerten die Rorerbrücke, um kurz nach der Ortstafel Warth nach links in die Dorfstraße einzubiegen.
„Nochmals zurück zur Zeugenbefragung, Alexander. Einerseits wurde uns von der Kartause keine herrenlose Kleidung gemeldet. Andererseits hatte Frau Hälfenberg auch keine größere Tasche bei sich, in der sie noch andere Kleidung mit sich getragen hätte.“
„In welchem Zusammenhang steht aber der Kleiderdiebstahl in Hüttwilen mit dem Fall in der Kartause? Es muss eine Verbindung geben, die wir nicht sehen“, versuchte Alexander die Fakten zu ordnen.
„Aber warum sollte Frau von Hälfenberg Kleidung so quasi aus Nachbars Garten stehlen und diese dann auch noch in seiner unmittelbaren Nähe tragen? Das wäre höchst unlogisch“, sagte Marina und schaltete auf der kleinen Steigung einen Gang zurück.
„Also, wenn ich die Kleidung meines Nachbarn klaue, würde ich sie wohl eher verkaufen, aber sicherlich nicht selber tragen. Es stellt sich grundsätzlich schon mal die Frage; warum klaut einer überhaupt Kleider?“, fuhr Marina fort und aktivierte vor der Haltestelle Kreuz den linken Blinker.
„Spanner?“ Alexander feixte.
„Klar. Die von Hälfenberg, eine verkappte Spannerin.“ Sie zeigte ihrem Kollegen mit dem Zeigefinder den Vogel an der Stirn.
„Warst du hier im Kreuz schon mal essen? Ich habe gehört, es soll recht fein sein. Das wäre doch mal was für dich und deinen Freund - oder nicht?“, scherzte Alexander.
„Klar, warum nicht“, Marina grinste.
„Werde es ihm dann vorschlagen, wenn ich mal einen habe.“
„Dein nächstes Date – denk daran“, sagte Alexander und lachte.
„Aber im Ernst“, wurde er wieder bestimmter.
„Denken wir doch einfach mal etwas unkonventioneller. Vielleicht ist das Außergewöhnliche gar nicht so abwegig. Nehmen wir die C14-Ergebnisse jetzt einfach mal als klare Fakten. Ziehen wir auch die Ausdrucksweise von Judith von Hälfenberg in Betracht. Sie benutzt Worte wie Niedergericht, edler Herr, Steineggersee, nennt die Ruine einen Burgstall, bezeichnet die Diphtherie als Rachenbräune und hat keinerlei Erfahrung im Umgang mit modernen Toiletten. Auf mich wirkt das alles irgendwie ...!“
„Du meinst mittelalterlich?“
„Genau, Marina, du sagst es, mittelalterlich.“
„Du meinst also wirklich im Ernst, sie hat sich aus dem Mittelalter hierher verirrt? Das erinnert mich an die Lieblingsserie meiner Mutter, Catweazle aus den 1970er-Jahren. Ein schrulliger, ziegenbärtiger, angelsächsischer Hexenmeister, der im Jahr 1066 lebt und mit Hilfe eines Zaubertranks aus Bilsenkraut, Schierling, Fingerhut und Butterblumen vergeblich zu fliegen versucht und auf der Flucht vor den Normannen in unserer Gegenwart landet.“
„So ungefähr. Der Vergleich ist nicht schlecht. Dann würde zumindest die gestohlene Kleidung einen Sinn als Tarnung machen.“
„... die sie aber im besagten Moment bei ihrem Erscheinen in der Kartause nicht getragen hat – warum aber nicht?“
„Das ist das große Rätsel, Marina.“ Sie überfuhren gemächlich die kleine Schwelle vor dem Haupteingang und bogen kurz darauf rechts in den Parkplatz der Kartause ein.
„Ich schlage vor, wir gehen zuerst mal ins Restaurant Mühle. Vielleicht kann sich dort noch jemand an sie erinnern.“ Sie verließen den Wagen und marschierten zielbewusst vorbei am kleinen Weiher, dem Scheiterturm von Kawamata bis zum hinteren Eingang am Werkhof.
„So oft, wie in den letzten Tagen, war ich schon lange nicht mehr hier“, scherzte Marina und schlängelte sich elegant zwischen den Sonnenschirmen des Gartenrestaurants hindurch zum Eingang.
„Bitte nach Ihnen“, Alexander öffnete ihr, verfolgt von den erstaunten Blicken der Gäste des Restaurants, galant die schwere Metall-Tür.
„Das alte Mühlrad imponiert mir immer wieder“, bestaunte Alexander das prächtige Wunderwerk klösterlichen Schaffens und stellte sich neben die Küchentür.
„Grüezi mitenand. Ich komme gleich“, wurden sie von einer freundlichen Kellnerin begrüßt.
„Worum geht es, kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie kurz darauf die beiden Beamten.
„Kapo Frauenfeld, Adler und meine Kollegin Keller. Wir führen Ermittlungen im Fall der Unbekannten im Priorat. Dürfen wir Ihnen kurz ein paar Fragen stellen?“
„Ja sicher.“
„Kennen Sie diese Frau oder ist sie Ihnen in der Kartause schon einmal begegnet?“, Marina überreichte ihr das Polizeifoto.
„Nein, leider nicht. Die Frau ist mir völlig unbekannt“, sie betrachtete aufmerksam die Aufnahme, „... aber einen kurzen Moment bitte“, sie rief eine ihrer Kolleginnen aus der Küche.
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