„Mein Vater pfleget jeweils zu sagen: Gold verdirbt das Wesen des Menschen.“
„Ihr Vater scheint ein gebildeter Mann zu sein“, erwiderte die junge Pflegerin.
„Das ist er. Mein Vater, Johannes von Hälfenberg, ist ein geachteter Mann. Er hat auch große Kenntnisse von Büchern. Er bindet sie.“
„Das ist aber interessant. Ich habe auch einen Bruder, der als Buchbinder arbeitet.“ Rahel lachte fröhlich.
„Ich habe Ihnen übrigens ein paar neue Blumen aus der Klinikgärtnerei gebracht. Ich hoffe, sie gefallen Ihnen“, sie zeigte auf den Tisch.
„Eine Schlüsselblume. Ihr seid nett, Jungfer Rahel. Schade, dass Ihr meinen Vater nie kennen lernet. Es ist schön, mit Euch zu konversieren.“
„Ganz meinerseits, Frau von Hälfenberg.“
„Warum nennet Ihr mich Frau von Hälfenberg. Die Nobilisten sind meiner Familie fern. Nennet mich doch einfach bei meinem Namen, Judith. Aber saget an, Ihr seid so freundlich. Gibt es einen Ausweg oder eine Möglichkeit zur Flucht aus diesem Karzer? Wer haltet mich gefangen an diesem finsteren
Ort?“
„Das ist kein Kerker“, sagte Rahel und lächelte.
„Münsterlingen ist eine psychiatrische Klinik.“
„Ihr verzeiht, wenn ich Euch nicht verstehe?“, reagierte Judith verwundert.
„Wir sind in einer psychiatrischen Klinik, in einem Hospital.“
„Aber ich bin von keinerlei Ungemach verdorben. Sehet her“, Judith sprang auf und griff nach ihren Kleidern. „Das ist ein Missverständnis. Bitte kündet dies Eurem Medicus, er könne mich bedenkenlos ziehen lassen.“ Sie schlüpfte schnell in das Kleid.
„Das ist nicht so einfach, Judith. Wir sind hier auf der geschlossenen Abteilung, und solange die Behörden und die Polizei nicht wissen, woher Sie kommen und wer Sie sind, werden Sie zu Ihrem eigenen Schutz hier behalten“.
„Habt Dank, aber das ist nicht von Nöten. Bitte lasset Eure Jus Politiae wissen, dass ich mich zeitlebens selber gegen Pfaffen und Wegelagerer sehr gut zu wehren wusste. Bitte besorget mir doch ein Ross. Wie viele Taler müsste ich dafür aus meiner Geldkatze kratzen?“
„Ein Pferd? Wozu benötigen Sie ein Pferd, Judith?“, zeigte sich die junge Pflegerin etwas perplex.
„Es wird mich in die Kartause tragen. Sie ist mir die Pforte nach Hause.“
„Wie meinen Sie das?“
„Das werdet Ihr kaum verstehen, werte Rahel. Verzeihet, aber könnet Ihr meine Bitte erfüllen?“
„Ich werde sehen, was sich machen lässt. Jetzt muss ich Sie aber kurz alleine lassen.“
Rahel verließ mit einer freundlichen Geste den Raum. Vorsichtig ließ sie hinter sich die Türe ins Schloss fallen.
„Das war gut, Rahel, besten Dank.“ Der Stationsleiter Hell trat ihr entgegen.
„Sie sind die geborene Schauspielerin. Zumindest können wir jetzt unser Bild etwas erweitern. Was haben Sie für einen Eindruck, Rahel?“
„Sie ist wirklich nett und irgendwie tut sie mir leid. Es umgibt sie etwas Geheimnisvolles. Gerade so, als ob sie tatsächlich nicht aus dieser Zeit wäre. Sie wirkt so echt. Ich habe den Eindruck, sie ist verzweifelt und kann es aber nicht wirklich zeigen.“
„Guten Morgen Marina!“ Alexander warf sein Sakko zielsicher über die Stuhllehne.
„Hallo Alexander - Kaffee?“
„Ja gerne, bitte mit Milch und Zucker.“ Das braune Gebräu duftete bereits angenehm durch das Büro.
„Klar, wie immer.“ Marina stellte ihm die dampfende Tasse hin.
„Guten Morgen Leute, was haben wir?“ Der Kommandant Ramseier erschien in der morgendlichen Sitzungsrunde. Die Sonne warf ihr Licht in quadratischen Formen auf den dunklen Teppichboden. „Lasst uns erst mal die Details zum Fall Kartause Ittingen zusammentragen. Wer ist an dem Fall dran?“
„Ähm, das sind wir Chef, Marina und ich.“ Alexander räusperte sich und kramte etwas verlegen in seinen kärglichen Unterlagen.
„Ehrlich gesagt sind unsere Ergebnisse bis jetzt etwas spärlich - aber durchaus interessant.“ Er rutschte mit seinem Bürostuhl hin und her.
„Also zur Erinnerung: Wir haben einen verstorbenen Säugling und eine junge Frau, von der wir mittlerweile wissen, dass sie Judith von Hälfenberg heißt. Gemäß ihren eigenen Angaben ist sie nicht die Mutter des Kindes.“
„Gibt es dafür irgendeinen Nachweis?“, wandte Ramseier ein.
„Wir waren bei ihr in der Klinik. Einerseits haben wir von ihr eine durchaus glaubwürdige Aussage, und zweitens hat dies auch die forensische Pathologie bestätigt. Die genetische Untersuchung weist tatsächlich keine Übereinstimmung des Kindes mit Frau von Hälfenberg auf“, ergänzte Marina.
„Okay“, gab sich Ramseier zufrieden.
„Das Kind starb an Diphtherie“, fuhr Alexander fort.
„Ein Fremdverschulden kann einwandfrei ausgeschlossen werden. Judith von Hälfenberg kann
also aus strafrechtlicher Sicht nicht angeklagt und weiterhin nicht mehr festgehalten werden.“
„Wir müssen sie also auf freien Fuß setzen?“, erkundigte sich der Kollege Hürzeler.
„Nein, nicht unbedingt. So einfach ist das Ganze nicht“, intervenierte Marina.
„Das scheint mir auch so“, schloss sich Ramseier an.
„Einerseits ist die Identität des Kindes noch nicht einwandfrei geklärt. Wer ist seine Mutter und vor allem, wo ist sie? Die Frage ist noch offen. Andererseits haben wir noch den Verdacht des zweifachen Diebstahls von Kleidern in Hüttwilen. Hierzu liegt eine Anzeige gegen Unbekannt vor. Meines Wissens hat Alexander die Kleidung im Besitz von Frau von Hälfenberg wieder erkannt. Ist das korrekt?“, stellte Ramseier die Frage in den Raum.
„Gemäß seiner Aussage ist das so. Die Kleidung ist aber verschwunden. Es könnte sich auch um einen Zufall handeln. Ähnliche Kleider sind nicht selten. Der Diebstahl bleibt ein Verdacht und kann daher eigentlich nicht gegen sie verwendet werden“, berichtigte Marina. „Im Weiteren haben wir noch den vermeintlichen Diebstahl von Eiern und Petersilie beim Siedlerhof in der Nähe der Ruine Hälfenberg. Es liegt aber keine Anzeige der Bauersleute vor. Fazit jegliche Beweise gegen Judith von Hälfenberg fehlen“, fuhr Marina fort und überreichte Alexander mit einer freundlichen Geste das Wort.
„Danke Marina. Von Hälfenberg ist gegenwärtig in der Klinik Münsterlingen auf der geschlossenen Abteilung, bzw. in der forensischen Psychiatrie. Ihre Herkunft bzw. ihre Identität ist noch immer nicht einwandfrei geklärt. Also genau genommen haben wir nur ihren Namen. Sie ist auch nirgends als vermisst gemeldet. Das macht die Sache schwieriger. Den Namen der Mutter des Kindes hat sie uns mit Agnes Kantengiesser genannt. Wir konnten jedoch bis jetzt so gut wie nichts über diese Person in Erfahrung bringen. Eine Agnes Kantengiesser existiert nicht in der Schweiz.“
„Offensichtlich handelt es sich aber um eine Freundin“, schob Marina eine kurze Erklärung nach.
„... genau, wie Marina sagt, ließ sich das zumindest aus ihrer Aussage ableiten.“
„Okay. Die Sache mit dem Kind und ihrer vermeintlichen Mutterschaft ist offensichtlich halbwegs geklärt. Dann bleibt dran, diese Kantengiesser zu finden. Von mir aus mit Interpol. Was sagen die Ärzte in Münsterlingen in ihrem Bericht?“, fuhr Kommandant Ramseier fort.
„Ja, das ist auch nicht so einfach“, sagte Alexander und rutschte auf seinem Stuhl hin und her.
„Die ersten Untersuchungen weisen zwar auf eine gewisse Verwirrung hin. Laut dem heute Morgen eingetroffenen Bericht kann aber nicht einwandfrei eine psychische Störung in diesem Sinne diagnostiziert werden.“
„Habt ihr schon mit ihr gesprochen? Was macht sie auf euch für einen Eindruck?“
„Ja, haben wir, Chef. Ehrlich gesagt, war es eine sehr angenehme Begegnung. Sie macht einen vernünftigen Eindruck. Zugegeben etwas außergewöhnlich, aber nicht ‚verrückt‘. Ich würde sie nicht als Psychopatin bezeichnen.“
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