„Aber Ihr müsset Euch wehren, Agnes. Ihr seid eine Botin der göttlichen Nächstenliebe.“
„Ihr seid so unbedarft und voller Unschuld, liebe Judith. Bedenket, wir sind Weiber. Seit der Dominikaner Henricus Institoris im Jahre des Herrn anno 1486 sein Verfolgungswerk Malleus Maleficarum veröffentlichte, sind auch wir Ordensschwestern und Nonnen nicht mehr sicher vor der Inquisition. Ein Weib würde der Verleumdung gegen einen Mann Gottes angeklagt, gefoltert oder lebend eingemauert werden.“
„Ihr erschrecket mich, Agnes. Es ist erschütternd, solches aus Eurem Munde zu vernehmen. Es kann doch nicht sein. Ist denn Euer Glaube nicht auf dem Grund der christlichen Nächstenliebe aufgebauet?“
„Der katholische Glaube ist eine Institution der Männer, liebe Judith. Bereits vor 300 Jahren lehrete Thomas von Aquin, das Weib sei ein Missgriff der Natur. Mit ihrem Feuchtigkeitsüberschuss und ihrer Untertemperatur sei sie körperlich und geistig minderwertiger.“
„Seine Lehre ist mir durchaus bewusst. Vater hat mich eingehend in dieser Lehre der Verachtung des Weibes und der Frouwen unterwiesen. Ich solle mich zeitlebens vor ihren Auswüchsen zu schützen lernen.“
„Euer Vater ist ein weiser Mann. Ihr wisset, auch er ist einigen kirchlichen Würdenträgern ein Dorn im Auge. Man bezichtigt ihn mit der Reformation und gar den Atheisten zu sympathisieren.“
„Ihr verstehet daher wohl meine Abneigung gegen die Kirche und die Scheinheiligkeit der Pfaffen, liebe Agnes. Ihr werdet von mir geehret und geachtet. Es fallet mir jedoch schwer zu begreifen, dass Ihr Euch nicht gegen diese Unterdrückung zur Wehr setzet“, vermochte Judith ihre Wut gegen diese offensichtlichen Ungerechtigkeiten nicht zu verbergen.
„Lassen wir dieses Thema ruhen, liebe Agnes. Ich denke, wir sollten uns um das ungeborene Kindelein kümmern.“
„Ihr habet Recht, Judith. Aber glaubet mir. Er war mir mit seinen Kräften überlegen. Ich vermochte mich nicht zu wehren. Seither schäme ich mich dafür, ein Weib zu sein.“
„Ihr zieret Euch dafür, an einem heiligen Ort Eurer Weiblichkeit entehret worden zu sein?“ Judith entsetzte sich erneut über alle Maßen.
„Es ist mir ein Gram, die biblische Sündhaftigkeit des Weibes zu verkörpern.“
„Bei aller Liebe und bei all meinem Verständnis für Euren Glauben, liebe Agnes. Es ist niemals des Rechtens, was Euch von einem Manne angetan wurde. Auch nicht für einen Geistlichen.“
„Aber selbst in der Bibel stehet doch geschrieben, die Sünde kam durch das Weib in die Welt.“
„Agnes, die Bibel ist keine Ausrede für eine solche Schändlichkeit“, erzürnte sie sich über die Scheinheiligkeit des Mönches.
„Legen wir diese üble Tat endgültig beiseite. Was könnt ich wohl für Euch verrichten, Agnes?“ Sie nahm ihre Freundin in den Arm.
„Verzeihet mir bitte meinen Zorn. Sag an, was ich für Euch verrichten kann.“
„Mir fehlen jegliche Worte, meine Bitte an Euch anzutragen, werte Judith. Niemand darf jemals von diesem Kindelein erfahren. Zeitlebens würde man mich ächten.“ Schweigend und eng umschlungen saßen die beiden Frauen nachdenklich am Ufer des Steineggersees.
„Sehet nur das Reh dort drüben, Judith. Das Leben könnte so friedlich sein. Doch wir sind Menschen, und Gottes Aufgaben und Prüfungen sind manchmal fast unerträglich.“
„Wann erwartet Ihr die Niederkunft, liebste Agnes, und wie gedenket Ihr dies geheimzuhalten in Eurer Position, wo wollt ihr das Kindelein gebären?“
„Das Geschehene ist nicht mehr zu ändern, liebste Freundin. Im Heumonat will das Geschöpf geboren werden, liebste Judith. Bitte stehet mir bei in jener Stunde.“ Sie blickte ihre Freundin flehend an. „Könntet Ihr ihm eine liebende und gute Mutter sein?“, flehte die sichtlich verzweifelte Äbtissin. Auf diese Frage war Judith nicht vorbereitet. Von einem auf den anderen Moment sollte sie Mutter eines Kindes werden. Niemals zuvor war sie in der Situation, sich darüber ihre Gedanken zu machen. Eine Heirat kam für sie in absehbarer Zeit nicht infrage, auch wenn sich immer wieder starke Männer um ihre Gunst bemühten. Niemals wollte sie sich von Kirche, Staat oder dem Glauben in die mütterliche Rolle oder in Traditionen zwingen lassen.
„Ihr fordert von mir schier Unerträgliches. Das ist eine große Verantwortung, werte Agnes. Wie soll ich Euer Anliegen meiner Mutter und meinem Vater erklären?“, quittierte sie ratlos die Frage.
„Euer Vater ist ein guter und weiser Mann, und auch Eure Mutter weiß ein Geheimnis zu wahren – bitte helft mir“, bat sie verzweifelt.
„Guten Morgen, Frau von Hälfenberg, sind Sie schon wach? Haben Sie gut geschlafen?“, wurde sie von einer freundlichen Stimme und von einer sanften Musik aus dem Schlaf gerissen. Schlaftrunken richtete sie sich auf und hielt sich die Hand vor das Gesicht. Das helle Licht blendete ihre Augen. Beklommen blickte sie zurück auf die Erinnerungen der letzten Nacht. Wie gerne wäre sie jetzt zuhause an ihrer Arbeit. Schnell hatte sie jedoch die Realität der Gegenwart eingeholt.
„Habt Dank, junge Maiden. Ja, mein Schlaf war durchaus erholsam“, erwiderte sie der jungen Pflegerin.
„Wie wird sie genannt, die junge Frouwe? Ich habe Euch noch niemals zuvor gesehen in meiner Kemenate.“
„Ich mag Ihre Sprache und Ausdrucksweise, Frau von Hälfenberg. Sie sprechen gerade so, als ob Sie tatsächlich nicht aus dieser Zeit wären. Mein Name ist Rahel.“ Sie reichte Judith freundlich die Hand und setzte sich auf den Rand des Bettes. „Ich habe schon viel von Ihnen gehört und werde Sie heute durch den Tag begleiten.“
„Das ist mir wohlgefällig, Euch bei mir zu haben“, reagierte Judith etwas verhalten.
„Ich war mir dessen nicht gewahr, dass allerlei Leut über mich kallen. Was wird disputiert? Habet ihr nicht ein wenig übertrieben?“
„Doch, doch. Die Ärzte sprechen oft über Ihren Fall, wie sie es nennen. Ich wollte Sie schon lange einmal kennenlernen. Leider wurde ich erst heute zu Ihnen eingeteilt.“
„Was gedenket Ihr denn heute mit mir zu verrichten, werte Maiden? Verhülfet Ihr mir zurück in die Kartause?“
„Nein, leider nicht. Dazu habe ich keine Befugnis“, wurde sie von der jungen Pflegerin enttäuscht. „Woher haben Sie denn ihr tolles Kleid, Frau von Hälfenberg. Das Mittelalter gefällt mir auch sehr. Ich gehe regelmäßig an die Handwerkermärkte auf Schloss Wellenberg bei Frauenfeld“, lenkte die Pflegerin vom Thema ab und hielt das Kleid an ihren schlanken Körper.
„Wir nähen unsere Gewandung selbst, holde Rahel. Meine Mutter ist darin gar geschickt. Wir haben nicht die notwendige Penunse, um einen Nähknecht oder den Schneidermeister zu beauftragen“, antwortete Judith.
„Es ist gar nicht so einfach, gute Mittelalterkleidung zu finden“, klagte Rahel.
„In Islikon kenne ich einen kleinen Laden, in dem sich immer etwas Derartiges finden lässt, und dann habe ich auch noch eine Freundin, die mir hilft, meine Mittelalterkleidung zu nähen“, fuhr die Pflegerin fort.
„Was machen Sie denn beruflich, Frau von Hälfenberg?“
„Beruflich?“, antwortete Judith sichtlich erstaunt.
„Verzeihung, werte Rahel. Worin liegt der Sinn Eurer Frage?“
„Womit verdienen Sie Ihr Geld oder Penunse, wie Sie sagen? Sind Sie eine Künstlerin oder eine Schneiderin?“, wiederholte Rahel etwas konsterniert.
„Wir haben alles, was wir benötigen. Wir bbrauchen keine fremden Batzen. Ich versorge daheim die Hühner, die Gänse und unsere Schafe. Natürlich auch unseren Garten. Hin und wieder halten wir etwas wohlfeil am Markt in Frauenfeld. Das genüget uns gut zum Leben.“
„Aha, Sie sind eine Selbstversorgerin?“ Rahel setzte sich abermals neben Judith.
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