»Ist für das, was in Zellenblock 1 geschehen ist, vielleicht auch ein Hirnmarodeur verantwortlich?«, wandte sich der Sänger beunruhigt an End. Sein Gegenüber antwortete nicht. Wieder einmal starrte er an die Betonwand seiner Zelle, als handelte es sich um ein Panorama. Hatte er Bill überhaupt zugehört? »Hey!«
Erst jetzt schüttelte er den Kopf. »Was der Neue sagt, klingt eher, als wären seine toten Zellengenossen nicht Herren ihrer selbst gewesen. Dazu wäre ein Folkore nicht imstande.«
»Also ein Alb? Oder ein Norn?«
»Alben laben sich nicht am Leid der Menschen«, meinte End. »Und Norn gehen für gewöhnlich subtiler vor. Vermutlich war es ein nicht kategorisierter Enerphag mit instabiler Dunkler-Mana-Aktivität.«
»Müssen … wir damit rechnen, dass er auch hierher in den Zellenblock 13 kommt?«, forschte der Sänger nach.
»Wär möglich«, entgegnete End.
Seine Teilnahmslosigkeit brachte den Sänger an den Rand der Verzweiflung. »Es muss eine Möglichkeit geben, uns zu schützen«, sagte er händeringend.
»Knoblauch schützt einen vor den meisten Folkloren und nicht kategorisierten Enerphagen«, entgegnete End ungerührt. »Frag mich jetzt nicht, wie wir den auftreiben sollen.«
Wieder löste betretene Stille die Konversation im Zellenblock 13 ab.
»End weiß scheinbar, was hier vor sich geht«, erklärte Baine seinem neuen Zellennachbarn und kratzte sich am Nacken. »Was er erzählt, klingt vollkommen verrückt. Aber nach allem, was passiert ist … lass es mich so sagen: Wenn ich noch meiner eigenen Wahrnehmung glauben kann, dann auch ihm.«
»End?«, wiederholte Bill. »Also ist es wahr? Godric End ist in diesem Zellenblock?« Die anderen Insassen bejahten. »Ich war in Onslow dabei, Mann!«, sagte Bill aufgeregt.
»Ein historischer Tag«, erwiderte End spöttisch.
»End erzählt uns, was wirklich passiert ist«, brummte Arwin. Ihm war anzuhören, dass die Wahrheit ihn nicht glücklich machte.
»In Onslow?«, fragte Bill verständnislos.
»Generell«, entgegnete Jed.
»Kannst du ihm nicht eine kurze Zusammenfassung geben, End?«, fragte Baxter seinen Zellennachbarn.
»Klar«, entgegnete End. Baxter stutzte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass End so leicht einwilligen würde. Immerhin kostete es sie eine Zigarette pro Tag, damit er ihnen seine Geschichte erzählte.
»Wenn du auch noch deine Füße in den Zellengang streckst, könnte ich sie dir währenddessen massieren«, fügte End in sarkastischem Tonfall hinzu.
»Ich meinte ja nur …«, sagte Baxter kleinlaut.
»Und wenn du zwei Zigaretten bekommst?«, schlug Jed vor. Nun wirkte End interessiert.
Ehe er antworten konnte, hatte der Sänger seinen Tabakvorrat überprüft. »Dann habe ich vielleicht nicht mehr genug Tabak für den Rest der Geschichte«, meinte er.
»Ich habe Tabak«, meldete sich Bill zu Wort. Der Sänger glaubte zu sehen, wie sich Ends Nasenflügel blähten, als könnte er das Kraut wittern, während der Neuankömmling eine Zigarette drehte. Bill reichte sie an Baine weiter, Baine an Arwin, Arwin an Baxter. Letzterer hielt die Zigarette in den Zellengang, sodass End sie sehen konnte.
»Haben wir einen Deal?« Wortlos trat End vor die Zellentür, steckte einen Arm durch die Gitterstäbe und hielt die Hand auf. Baxter legte die Zigarette hinein, und End zog sich in seine Zelle zurück wie ein Raubtier in eine Höhle, um seine Beute zu verspeisen. Er holte die Streichholzschachtel, die ihm der Sänger am Tag seiner Ankunft in Blackworth zugeworfen hatte, aus der Hosentasche und steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen. Dann zog er eines der Zündhölzer über seine Schuhsohle und entzündete den Tabak.
Was noch riefe jenen Ausdruck der Verzückung in Ends Miene wach, wie es der jeweils erste Zug einer Zigarette tut?, fragte sich der Sänger. Nicht viel, vermutete er.
»Ich schätze«, begann End, sobald er die Zigarette aufgeraucht hatte, »du kennst die Geschichten vom Unterrumpf. Du weißt, dass ich dort aufgewachsen bin. Du hast vielleicht auch schon mal gehört, dass ich eine Zeit lang für eine der Banden auf der Swimming Island als Auftragsmörder gearbeitet habe. Und natürlich kennst du die Geschichten davon, wie ich Baron Enoch Ashbee tötete.« End holte einmal tief Luft. »Wovon du gewiss noch nie gehört hast, ist das Tagebuch von William Walker. Du weißt nicht, dass er meine Schwester tot aufgefunden hat – eingefroren in einer Kühltruhe – und versucht hat, sie mithilfe der Alchemie ins Leben zurückzuholen.«
»Alchemie?«, wiederholte Bill. »Soll das ein …« George zischte warnend und legte einen Finger auf die Lippen.
»Du denkst, Böse Geister gibt es nur in den Mythen der Norvolken, und dass Auguren und Alchemisten nicht existieren«, fuhr End fort, als wäre er nicht unterbrochen worden. »Du hast noch nie von Idun gehört, oder dass die entrische Energie, als die wir sie kennen, ein Bewusstsein ist. Und auch wenn die ganze Welt scheinbar mehr über mich weiß, als mir lieb ist, ist doch recht wenig über jenen Abschnitt meines Lebens bekannt, der zwischen dem Untergang der Swimming Island und der Eskalation in Onslow liegt. In Treedsgow stieß ich auf Damon, den Banditenanführer, dem Insomnium, ein alchemistisches Gebräu, zu übermenschlichen Kräften verhalf. Ich lernte Rocío kennen, Damons Exgeliebte und ehemalige Alchemistin, und Roberto Fonti, der zu einem meiner treuesten Verbündeten wurde, nachdem ich ihm und Maria, der ehemaligen Perle eines Lokals namens Fourier, das Leben gerettet hatte. Ich schloss Freundschaft mit Jasper, der zum Preis dafür, dass er mich vorm Tod bewahrte, mehrere Viertel in der Welt der Bösen Geister eingeschlossen war, und machte Bekanntschaft mit Waterstone, Professor für Mathematik an der Treedsgow University. Ich brach in die Nervenheilanstalt Sankt Laplace ein, begegnete den Hibridia und jagte das Hotel Whitehall Nord in die Luft. Ich fand einen Weg ins Universitätsviertel von Treedsgow und half Waterstone bei der Erforschung der segovianischen Technologie – nicht immer aus freien Stücken, pflanzte der Professor mir doch bei der ersten Gelegenheit ein Relikt aus der Antike, eine sogenannte Segovia-Kapsel, in die Brust ein. Ich wurde Zeuge davon, wie mein Spiegelbild lebendig wurde, und entdeckte die vollständig erhaltene Bibliothek von Ad Etupiae im Erdreich unter Treedsgow. Ich las den ersten Teil der Memoiren von Norin, dem Unbezwungenen, und erfuhr, wie die Zivilisation vor tausenden von Jahren ausgesehen hat.« End verstummte. Irgendwie schaffte er es, dem kurzen Schweigen, das er anstimmte, eine Prise Amüsement beizumengen. »Ich weiß, dass dir nun das ein oder andere spöttische Wort auf der Zunge liegt. Schluck es runter, bevor dir eines davon über die Lippen stolpert, oder ich werde nicht fortfahren, ehe ich nicht eine weitere deiner kostbaren Zigaretten bekommen habe.«
Rattle atmete ruhig. Die Hände lagen auf seinen Oberschenkeln, während er neben seinen Brüdern und Schwestern kniete und darauf wartete, dass Meister Dimir die Zwiesprache beendete. Nicht ein Mal öffnete er die Augen, um einen Blick auf das zu werfen, was im dunklen Spiegel zu sehen war. Nicht, dass er neugierig gewesen wäre. Er befand sich in einem Zustand der Meditation, in dem ein Gefühl wie Neugierde nicht existierte. Er lauschte seinem Atem, seinem Herzschlag und dem Klicken der Minenkrebse; dem steten Rauschen des Windes, der einen Weg durch die natürlichen Tunnel und die in den Berg gegrabenen Schächte suchte, und der Stille. Die kühle, feuchte Luft vereinte seine Gedanken zu einem ruhig dahintreibenden Fluss, während der Granitgeruch dieses Ortes mit jedem Atemzug in sein Herz einzog, dessen Schlag längst so ruhig war wie die Erde selbst.
Goldgrüner Lichtschein kündete von einem Minenkrebs, der sich von links näherte; friedliche Lebewesen, sofern man sie nicht bedrohte. Es war schon öfter vorgekommen, dass den Scheren ein Finger zum Opfer gefallen war. Das Tier konnte Rattle jedoch genauso wenig überraschen wie er sich selbst. Solange er das Auge des Einklangs geöffnet hatte, spürte er es, als wäre es ein Teil von ihm.
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