Deshalb habe ich mich umgesehen, Bewerbungen verschickt und warte nun auf Antworten. Es ist ja noch etwas Zeit.«
Manchmal, wenn Lydia etwas wirklich wichtig war, überschlugen sich ihre Gedanken.
Die zwei starrten sie nur perplex an und es dauerte einige Augenblicke, ehe Sam endlich etwas dazu sagen konnte:
»Schwesterchen, wie kommst du denn auf solche Gedanken?«
»So was passiert, wenn man den Kindern seinen eigenen Fernseher gibt!«, lachte Lydia und sah demonstrativ zu ihrem Dad und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Im Ernst, ich hab das alles mit der Krise verfolgt, schon seit Monaten. Klar, US-Präsident Obama hat schon viel erreicht in seiner kurzen Amtszeit und auch Kanzlerin Merkel versucht irgendwie etwas zu machen. Aber die wirtschaftliche Lage ist nicht lustig und viele Jobs sind betroffen. Ich habe absolut keine Ahnung, was ich später studieren will. Ich möchte lieber eine Lehrstelle.
Lernen macht mir eh keinen Spaß, das wisst ihr. Und wenn ich dran denke, vielleicht noch fünf, sechs Jahre büffeln zu müssen, ohne zu wissen, ob ich später überhaupt eine Arbeit erhalte, werde ich nur traurig. Sams Noten sind super, er muss studieren«, während sie das letzte sagte, machte sie große Augen und sah ihren Bruder an.
»Lydia, du bist klüger als die meisten, die ich kenne, und jünger als jene, die glauben, die Welt nach ihrem Studium ändern zu können.« Sam stand von seinem gemütlichen Sofa auf und ging zu ihr.
»Was soll’s. Drei von vier Schaf-Kinder sind Genies. Das ist doch sehr gut.« Sie brachte ihre Familie immer zum Lachen, egal, wie wichtig ein Gespräch war. »Aber macht euch mal keine Gedanken. Das Spiel fängt wieder an. Ich werde zurück in mein Zimmer gehen und etwas fernsehen.«
»Aber keine Nachrichten mehr!«, rief ihr Bruder hinterher. Er setzte sich wieder zu seinem Vater. Beide waren sehr überrascht. Lydia hörte, wie sie sich etwas über sie unterhielten, aber dann erklang der Pfiff zur zweiten Halbzeit und sie widmeten sich wieder der Nationalelf und schimpften auf die Spieler, die ihrer Meinung nach falsch eingewechselt wurden und auch über die Schiedsrichter, die ein Abseits nicht richtig deuteten.
So war Lydia. Von außen sah sie unbeschwert aus, doch sie dachte viel nach. Zu viel, wie ihre Familie meinte. Als sie am Tag darauf von der Schule nach Hause kam, hatte sie Besuch von Michael und Stephen.
»Ach, Hallo ihr«, begrüßte sie die Jungs und umarmte ihre großen Brüder.
»Hey, Kleines«, kam es fast wie im Chor. Sie setzten sich ins Wohnzimmer.
Sam und ihr Vater waren nicht da. Michael fing als erster mit dem Thema an:
»Du willst nach der zehnten Klasse nicht weiter zur Schule gehen?«, hakte der große Bruder vorsichtig nach.
Lydia stellte sich wieder hin und funkelte sie böse an.
»Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen und ihr seid nur hier, um mir ins Gewissen zu reden?«
»Nein, nein. Gar nicht«, wehrten beide fast synchron ab.
»Also, ich hab es gestern Abend Papa und Sam erklärt.« Sie stemmte ihre Arme in ihre Hüften und sah beiden direkt in die Augen.
»Liegt es am Geld?«, wollte Steve wissen.
»Zum Teil«, meinte sie und seufzte. »Ich sehe aber auch keinen Sinn für mich darin.«
»Geld haben wir und Vater hat einiges für uns alle zurückgelegt«, sagte Steve direkt und beobachtete seine kleine Schwester. Michael stimmte dem nickend zu. Er war nie ein Mann großer Worte, aber seine Anwesenheit allein genügte oftmals schon aus, um zu zeigen, dass man sich auf ihn verlassen konnte.
»Ich will Vater einfach nicht noch mehr auf den Taschen liegen.«
Die Jungs sahen sich fragend an. Die Brüder konnten miteinander kommunizieren, ohne zu sprechen. Besonders wenn Lydia bei ihnen war, konnte diese Art der Verständigung sehr hilfreich sein. Manchmal schaute Lydia sie dann argwöhnisch an, als würde sie ahnen, das etwas nicht stimmte.
»Hört mal, ich freue mich immer, euch zu sehen, aber ich will wirklich nicht auf ein Gymnasium und sollte ich irgendwann die Muse haben zu studieren, kann ich auch ein Fernstudium machen. Die sind sicherlich nicht so wie ein ›Richtiges‹, aber sie öffnen einem auch Türen. Was sollte ich denn eurer Meinung nach studieren?«, fragte sie aufgebracht und fuhr sich mit der Hand durch ihr langes dunkelblondes Haar.
»Ein Fernstudium? Das kostet auch Geld!« Steve machte sich spürbar Sorgen um seine kleine Schwester und blickte ihr direkt in die Augen, denn darin konnte er mehr erkennen, als in ihren Worten. Lydia aber wirkte entschlossen, als wüsste sie, wie ihre Zukunft aussieht. Als hätte sie alles genau durchdacht und geplant. Er musste schmunzeln, denn genauso war es wahrscheinlich: Sie hatte einen Plan, den sie nur noch nicht verstanden. Michael hörte schweigend zu, aber auch er erkannte, wie sie sich selbst sah.
»Ja, aber nicht annähernd so viel wie eins an einer Uni. Ein Fernstudium kann ich von zuhause aus machen und nebenbei arbeiten. Wenn ich ein Studium antreten würde, bräuchte ich eine Bleibe und müsste zusätzlich eh Geldverdienen«, versuchte sie ihren Standpunkt ganz klar darzustellen.
»Du magst doch Bücher! Du könntest Literatur studieren oder Deutsch oder Geschichte.«
»Steve, und, was mache ich dann mit einem solchen Wissen?«
»Du könntest Lehrerin oder Bibliothekarin werden ... Du könntest alles werden, was du willst!«, ergriff der Ältere das Wort.
»Ihr redet so, als wäre es schlecht, nicht zu studieren! Warum sollte jemand, der nicht x Jahre eine Uni besuchte, schlechter in etwas sein? Klar, alles kann man nicht machen. Aber es gibt viele tolle Jobs! Ich könnte genauso gut Buchhändlerin werden oder Einzelhandelskauffrau«, sagte Lydia.
»Es ist nichts Schlechtes dabei. Aber wenn man doch, im Prinzip, was anderes werden will, warum sollte man sein Talent vergeuden?«
»Wer vergeudet denn hier etwas, Michael?«, sagte sie etwas lauter, als beabsichtigt und senkte ihre Stimme wieder, bevor sie fortfuhr. »Ihr habt eure Chancen ergriffen. Ihr habt eure Interessen und Fähigkeiten so eingesetzt, dass ihr das Beste daraus machen konntet. Auch Sam wird sicher eines Tages ein toller Anwalt sein. Deine Frau, Michael, macht ihre Arbeit bestimmt auch grandios. Versteht ihr nicht? Ich weiß, was ich kann und was nicht. Ich kenne meine Möglichkeiten und ich weiß, dass ich sicherlich keinen oder kaum Erfolg haben werde«, erklärte sie stur.
Lydia schätzte sich seit jeher falsch ein. Sie sah nicht, was sie wirklich in sich hatte.
Manchmal, auch wenn es nur Augenblicke waren, fühlte sie sich nicht zugehörig. Wie Fanny aus ›Mansfield Park‹: Sie gehörte zur Familie, aber irgendetwas fehlte.
Damit war für sie das Thema beendet. Steve wollte gerade noch einmal ausholen, als es an der Tür klingelte. Lydia war erleichtert und nahm ein Paket entgegen, bedankte sich beim Postboten und ging zurück ins Wohnzimmer. »Ist für Vati.«
Steve schaute es sich an und Lydia glaubte, für einen Moment etwas in seiner Mimik wahrgenommen zu haben, als er es sich anschaute.
»Wann ist er eigentlich zu Hause?«, erkundigte er sich.
»Dauert nicht mehr lange. Viertelstunde noch, warum?«
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