Der Mutter, mit Vickelchen im Arm, war in ihrem Sekretär Conroy, der zuerst Gehilfe ihres Gatten gewesen ist, ein mächtiger und durchtriebener Verbündeter erwachsen. Er verwaltete ihr Vermögen, leitete ihre Korrespondenz, und lenkte ihre Wünsche und Machtgelüste nach seinen Intentionen, die nicht eben weit von denen seiner Brotgeberin entfernt gewesen sind. Welche Stellung Conroy in Kensington innehatte, ist kaum noch fraglich. Mit seiner Chefin stand er in einem Alter, verheiratet und mit Kindern reichlich gesegnet war er auch, und daran, dass die Herzogin ihm gewährte, was er verlangte, ist kaum zu zweifeln. In Kensington regierte mittlerweile außer ihm noch eine Gouvernante, eine Deutsche, namens Frau Lehzen, was nicht bedeutet, dass die Herzogin ihrer nächsten Berater, dem Bruder Leopold und unseres Baron Stockmar entraten musste.
Christian Friedrich von Stockmar entstammt einer sächsischen Kaufmannsfamilie. Er studierte etliches, darunter Medizin in Würzburg, und nannte sich einen Freund Friedrich Rückerts. Wie es ihn auf den Weg zum persönlichen Dauerberater gebracht hatte, ist einfach, solche Männer wurden nötiger denn je gebraucht; ab 1816 folgte er dem damaligem Prinzen Leopold, einem späteren König, als, ja, als was? Als Freund, Gehilfe, Arzt, als Bote in diplomatischen Affären. Dieser Stockmar steckte dermaßen voller Weisheit, dass er von der ganzen Familie als Mädchen für alles gebraucht werden konnte. Wir finden in keinem der historischen Annalen, den zeitgenössischen wie den älteren, ein böses Wort über diesen Stockmar. Und wir werden ihn noch des Öfteren in einer Randglosse als Aufklärer dunkler Vorgänge heranziehen müssen. Meist hielt sich Stockmar im Gefolge Leopolds auf, der ihn keinen Augenblick entbehren konnte. Gelegentlich wurde er an andere Mitglieder der Familie als Fachmann und Berater ausgeliehen. Vickelchen liebte ihn sehr, und auch als Victoria entzog sie ihm nicht ihre Huld.
Die Lehzen scheint ein zuverlässiges Faktotum anderer Art gewesen zu sein. Sie intrigierte bald in diese, bald in jene Richtung, nicht weil sie besonders intrigant gewesen ist, sondern weil die Verhältnisse in Kensington gar nichts anderes zuließen, als die Intrige. Man beschäftigte sich ununterbrochen mit der nahen und ferneren Zukunft, und suchte seine eigene Rolle schon jetzt darin festzulegen. Vickelchen nennt sie meine liebe Lehzen , schickte sie allerdings irgendwann mit einem Baronat, das nichts kostete, heim nach Germany. Dies also waren die Figuren der Verschwörerclique: An der Spitze die Herzogin selbst, geleitet und womöglich geliebt von Conroy, beraten von Baron Stockmar, dem Weisen, und ferngelenkt von Onkel Leopold, einem starken Briefeschreiber, und der Baronin Lehzen. Sie alle bildeten einen engen Kreis um Vickelchen, entschlossen, jeden Zugriff auf die junge Larve der künftigen Bienenkönigin mit allen Mittel abzuwehren.
Trotz dieses Aufwandes an Wach- und Dienstpersonal; gelernt hat Victoria eigentlich gar nichts. In ihrer Kindheit sprach sie ein wenig deutsch. Als Erwachsene gab sie auch privat der englischen Sprache den Vorzug, verstand aber weiterhin recht gut Deutsch, wie sich versteht, denn die spätere hohenzollernsche Verwandtschaft bestand nicht eben aus geborenen Linguisten. Ihr Enkel Kaiser Wilhelm II. sprach und schrieb englisch, wie auch sein Bruder Heinrich. Letzterer gab der englischen Presse sogar Interviews in dieser Sprache. Man sieht, welche Fortschritte die Deutschen unterdessen gemacht haben; ihre politischen Fachleute reden sogar im heutigen deutschen Parlament am liebsten englisch. Die Herzogin hat nie eine andere Sprache als die deutsche benutzt, obwohl sie Jahre in England lebte, aber was heißt leben in diesem abgezirkelten Haus mit sehr beschränkten Kontakten. Allerdings verstand sie, was ihr auf Englisch gesagt wurde, recht gut.
Mit Hilfe ihrer Gouvernante Lehzen bastelte das Kind unzählige Puppen, was man offenbar für erzieherisch wertvoll hielt. Um ihrem Bewegungsdrang zu steuern, hielt man Vickelchen einen Esel; auf dessen geduldigen Rücken wurde sie durch den Park geführt, man redete ihr ein, dies alles sei ein Glück. Wie gesagt, es lebte noch ein Kind in diesem trostlosen, nicht einmal goldenen Käfig, Victorias Halbschwester Feodora, und eine Etage tiefer, die Kinder Conroys. Diejenigen Untertanen, die Gelegenheit hatten, ihre spätere Königin als Kind kennenzulernen, lobten sie als lebhaft und niedlich, aber solchen Urteilen ist nicht zu trauen. Endlich kam die Regierung nicht umhin, zur Kenntnis zu nehmen, dass Vickelchen existierte; sie entschloss sich zu einer Geste und erhob die Erzieher Conroy und die Lehzen in den Adelsstand, machte sie zur Lady, obschon sie beide nicht viel erzogen haben, wie die Politiker jener Tage alsbald feststellen mussten, die mit ihrer jungen Königin regieren sollten.
Gelernt hat Vickelchen natürlich doch etwas, so wie wir alle etwas lernen, nicht viel Vernünftiges, wie wir auch. Sie konnte tanzen und zeichnen, und besaß ein wenig Musikverständnis. In Religion unterrichtete sie ein bestellter Lehrer der Staatskirche, ein Vikar. Mit William IV., dem Nachfolger des heimgegangenen Georg IV., bestieg der letzte und populärste König vor Victoria den Thron. Sailor Billy , wie er im Volk genannt wurde, war allerdings auch bereits 64, seine Gemahlin, die Königin Adelaide 38, so dass nach menschlichem Ermessen von dieser Seite her keine Gefahr mehr für die Thronfolge Victorias drohte. Deshalb ergriff die Herzogin von Kent, gelenkt von ihren Beratern, die Gelegenheit beim Schopfe, und verlangte vom Parlament ein eigenes Gesetz, das sie zur Regentin bestimmte, also zu einer Art Lord Protektor, falls der amtierende Seemann-Billy, sterben und ihre Tochter noch nicht volljährig sein sollte. Das war an sich ganz vernünftig und sogar gerecht, wäre die Herzogin als Regentin in der Lage gewesen, ihren Platz denn auch auszufüllen. Das bezweifelten alle im Königreich, die ihren schwankenden Charakter, ihren Mangel an Takt und Intelligenz kannten. William IV. zögerte auch deshalb, weil er der Kensington-Bande nicht traute. Allein das Recht war in diesem Fall so unstreitig auf Seiten der Herzogin, dass ein sogenanntes Regentschaftsgesetz, in beiden Häusern eingebracht, die Zustimmung erhielt. Mit schlimmen Folgen für die Verhältnisse in Kensington; denn die Herzogin sah sich nunmehr schon als wirkliche Regentin bestätigt. Misstrauisch verschärfte sie die Aufsicht über ihre Tochter, und schloss in ihren Argwohn jeden Außenstehenden mit ein. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr, also 7 lange Jahre sollte Victoria diesen täglichen Drangsalierungen noch ausgesetzt bleiben, bis sie sich selbst in die Freiheit entlassen konnte. Sie war im Grunde allein. Conroy stand offenkundig zu ihrer Mutter in einer engen Beziehung, beide waren auf das gemeinsame Ziel eingeschworen, die künftige Königin unter ihre Kontrolle zu halten.
Die englische Geschichtsschreibung hat die Rolle Conroys in Kensington natürlich genauer untersucht, und alles herausgefunden, was daran herauszufinden war. Skrupellosigkeit gehörte zum allgemeinen politischen Stil. Was aber hätte Conroy, was die Herzogin von Kent wirklich erreichen können? Berater einer Königin zu werden und für dauernd zu bleiben, dazu reichte es bei weitem nicht. Weder die Herzogin, noch ihr irischer Liebhaber standen einer der wenigen Familien nahe, die England beherrschten. Für diese Ladies und Lords waren sie Emporkömmlinge. In dem englischen System einer komplizierten Gewaltenteilung hätte sich Conroy auch dann nicht halten können, wäre er der vollen Unterstützung Victorias sicher gewesen. Er überschätzte den Einfluss eines Monarchen in England bei weitem, so scheint es. War er ein Abenteurer, der alles auf eine Karte setzen konnte, so lagen die Dinge bei seiner Geliebten anders; ihr war die Rolle als Mutter der Königin längst zugeschrieben, das heißt, sie konnte wirklich gewisse Ansprüche stellen. Ob sich das Paar durch die rasche Erledigung des Regentschaftsgesetzes über die Verhältnisse täuschen ließ, irgendwie bleibt es unerklärlich, dass diese beiden nicht deutlicher sahen, wie weit sie gehen konnte. Onkel Leopold, Stockmar, die Lehzen sahen diesem Spiel offenbar mit Ruhe zu, verlieren konnten sie nichts, wohl aber etwas gewinnen.
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