»Hallo, kleines süßes Ding. Bist du aber flauschig. Gefällt dir das? Du siehst ja so süß aus …« Das Kätzchen reckt sich und streift ganz dicht an Theos Hosenbeinen entlang. »Du bist das warmherzigste Wesen, das mir weit und breit begegnet ist. Vielleicht weißt du, dass die Menschen hier laut und brutal miteinander umgehen, aber bitte glaube nicht, dass alle so sind. Schau dir meine Augen an, sie sind anders, und ich bin es auch.« Ein leises »Miau«, dringt an ihre Ohren. Theo ist plötzlich den Tränen nahe, als sie das kleine Stimmchen hört. Das ständige Gekeife der Erwachsenen ist ihr unerträglich geworden. Sie sehnt sich sehr nach den ruhigen und sachlichen Gesprächen mit Paps.
Theo hockt sich hin und nimmt das weiche Kätzchen auf den Arm, dann streicht sie mit ihrer Wange über das warme Fell.
»Tut mir leid, aber leider kann ich dich nicht mitnehmen.« Theo setzt das kleine, weißgraue Bündel wieder ins feuchte Gras zurück. Etwas ungläubig schauen die dunklen Knopfaugen zu ihr hinauf, als erwarteten sie noch etwas.
Vom Weg erschallt Großvaters Gebrüll, das die Familienmitglieder eiligst zusammentreibt. Sie finden sich beim Karren zusammen und bereiten sich zum Aufbruch vor. Theo bewegt sich ebenfalls in die Richtung, wirft dann aber einen wehmütigen Blick zurück. Das Kätzchen läuft ihr nach und umspringt Theos Füße, als sie wieder stehen bleibt.
Schwerfällig setzen sich die Ochsen in Bewegung. Das Gequietsche der Achsen fährt Theo durch Mark und Bein. Die breiten Räder haben große Mühe dem lehmartigen Schlamm zu entkommen, in den sie während der Rast noch tiefer eingesunken waren.
Was soll Theo mit dem schutzbedürftigen Kätzchen machen, wie soll sie sich entscheiden? Kurzentschlossen legt sie das kleine weißgraue Wollknäuel in ihre leicht geöffnete Jacke und humpelt angestrengt dem Karren hinterher, der sich ächzend aus der lehmigen Pampe befreien konnte. Einige Lehmbrocken hindern den Karren allerdings daran, zügig vorwärts zu kommen.
Theo ist glücklich, wieder neben der Großmutter zu sitzen. Das süße Kätzchen bleibt ganz still auf ihrem Schoß liegen, während Theo es hinter den Ohren krault. Vielleicht hat es unter den Trümmern des Dorfes jemanden verloren, der sich bislang um das süße Wollknäuel gekümmert hatte, befürchtet Theo.
Der holprige Weg führt die Reisenden bergan und bergab, mehr durch bewaldete Gebiete. Die Bäume stehen immer dichter, und die Wälder zu beiden Seiten des Weges kommen Theo düster und geheimnisvoll vor.
Sämtliche Gestalten, die ihnen auf dem Weg nach Irgendwo begegnen, starren sie aus ungnädigen schwarzen Augen an, als wollten sie sagen: Verschwinde von hier, du gehörst nicht zu uns. Hüte dich, hier bleiben zu wollen! Trotzig starrt sie in die Borkengesichter, als stünde ihre Antwort gut lesbar auf der Stirn: Ich will nur nach Hause, also lasst mich einfach ziehen. Der Anblick dieser ausdruckslosen Gesichter lässt Theo über diese Menschen nachgrübeln. Sind es die harten Lebensbedingungen, die ihre Spuren in die Haut gegraben haben oder nur der ungeschminkte Ausdruck ihrer Denk- und Lebensweise? Theo schaut bei diesen Überlegungen auf ihre neue Freundin, die zusammengerollt auf ihren Beinen liegt.
»Ich werde dich Susa nennen«, fällt Theo spontan ein und flüstert dem Kätzchen fragend ins spitze Ohr, »gefällt dir der Name?« Aber Susa lässt lediglich ein wohliges Schnurren vernehmen, während Theo sie weiter sanft am Hals streichelt.
»Nun, das werte ich mal als Zustimmung...«
Nach weiteren drei Stunden der mühsamen Reise, erreichen sie eine weite Ebene, die den Blick auf eine mächtige und düstere Stadt freigibt. Der mittelalterlich wirkende Ort ist umgeben von einer hohen Mauer, bestehend aus unzähligen, quaderförmigen Felsbrocken, deren oberer Rand von brusthohen Zinnen gekrönt ist, wie eine Festung. An strategisch wichtigen Stellen sind Wachen postiert, die von einer erhöhten Position nach verdächtigen Vorkommnissen Ausschau halten. Schwere, unbehauene Findlinge bilden das Fundament des wehrhaften Schutzwalls, die der Mauer den Anschein ewiger Standhaftigkeit und Unverwundbarkeit verleihen.
Schwere Wolken künden von ausdauerndem Regen, der in wenigen Stunden auf die Stadt niederprasseln wird. Auf tieferliegende Hügel, die sich hinter der Stadt befinden, fällt bereits ein grauer Vorhang, der die Sicht auf die höher gelegenen Ebenen versperrt. Hin und wieder ist ein dumpfes Grollen zu vernehmen, als hätten Riesen eine überdimensionale Bowlingkugel ins Rollen gebracht. Der Wind wird kälter und trägt den Reisenden den Geruch von Gebratenem und Gedünstetem entgegen, aber es liegt auch eine Spur von Verwesung in der Luft.
Theo lassen all diese Eindrücke verhältnismäßig kalt. Sie hat nur ein Ziel fest vor Augen, nämlich einen Ausweg zu finden, um dieser Stätte so schnell wie möglich den Rücken zu kehren. Zurück zu Paps, Elfi, Paula, Jenny, Frau Roll (gestern noch undenkbar) und all den anderen.
Die silbergrauen Dächer der alten Stadt reihen sich aneinander, als wäre ein riesiges Kettenhemd über die Häuser ausgebreitet worden. Theo lässt den Blick zum Stadttor wandern. Bewaffnete Wachen stehen davor und kreuzen ihre Speere. In diesem Moment ertönt der durchdringende Ton eines Signalhorns, dessen Signalgeber in einem ummauerten Vorbau der Stadtmauer steckt. Mit einer zackigen Bewegung ziehen die Wachen ihre Speere an ihre Stiefelschäfte, dann wird eine der beiden großen Flügeltüren von innen geöffnet. Das schwarzäugige Volk, das sich bereits in großen Mengen vor dem Stadttor eingefunden hatte, drängt jetzt mit großem Geschrei hindurch. Theo sieht mit Entsetzen, dass jeder danach trachtet als Erster hindurch zu gelangen, ohne Rücksicht auf Kranke, Kinder, Alte und Gebrechliche zu nehmen. Wer fällt oder eingequetscht wird, hat kaum Chancen ohne Blessuren durch das Tor zu gelangen.
Fast fröhlich verabschiedet sich Theo von der unsympathischen Mitfahrgelegenheit, auch wenn die Familie kein Wort ihrer Sprache versteht, am Ende der Reise ist Theo das ziemlich egal:
»Danke fürs Mitnehmen! Auf ein Wiedersehen lege ich aber keinen besonderen Wert, müsst ihr wissen.«
Aber niemand, außer dem aufgeweckten Jungen, würdigt sie auch nur eines Blickes. Freimütig lächelt Theo den Burschen an, dennoch ist er nicht fähig, ihr Lächeln zu erwidern. Er schaut sie unschlüssig an, als erahne er eine ihm bislang unbekannte Dimension des Menschseins – die Nächstenliebe.
Sie löst sich von seinem Blick, nimmt Susa hoch und öffnet wieder den Reißverschluss ihrer Jacke. Hier, in der warmen Winterjacke bekommt Susa vorübergehend ein neues Zuhause, damit sie im Gedränge nicht verloren geht.
Theo hält sich nun sehr weit am äußeren Rand der Menschenmenge und es gelingt ihr, in das Innere der Stadt zu kommen, ohne blaue Flecken davonzutragen. Mit jedem Schritt stellt sie erleichtert fest, dass wenigstens die stechenden Schmerzen in der Wirbelsäule langsam nachlassen, wenngleich sich der Zeh heftig gegen diesen Marsch zu wehren scheint.
Von den laut schimpfenden und drängelnden Massen lässt sie sich ins Zentrum ziehen. Auffällig vielen Menschen fehlen einzelne Gliedmaßen oder Sinnesorgane. Dem Einen fehlt die Hand, dem Anderen ein oder zwei Finger oder gar ein Bein. Manche tragen Ohren- oder Augenklappen, wie in einem schlechten Piratenfilm.
Vielleicht sind das Mitbringsel aus einem oder mehreren Kriegen, mutmaßt Theo.
Die Menge strömt weiter einem Ziel zu, dem Marktplatz. Immer mehr Baldachine und Stände stehen bereits auf den breiten Zugangsstraßen, doch die Vielfalt der Gerüche und Geräusche lässt vermuten, dass der Marktplatz nicht mehr weit entfernt sein kann. Theo humpelt orientierungslos die Straße entlang und zwängt sich durch Gemüsekisten und Hühnerkäfige, die planlos auf dem Pflaster abgestellt worden waren. Die vielen Marktstände bieten Waren zum Kauf an, die fast ausnahmslos die Bedürfnisse des täglichen Bedarfs stillen sollen: Fleisch, Fisch, Käse, Milch, Obst, Gemüse, lebendes und totes Vieh, jede Menge Alkohol, grau und braun gewebte Stoffe und Filz, aber auch Werkzeug und Waffen. Sie entdeckt keinerlei Schmuck, kein Kunsthandwerk oder gar Handel mit feinen Tüchern oder Färbemitteln, die das Leben etwas bunter gestalten könnten. Die Stadt ist trist und farblos, ohne Blumenschmuck oder verzierendem Schnitzwerk an den Häusern. Einige Mauersimse und Dachstürze weisen erhebliche Schäden auf. Ganz offensichtlich haben Wind und Wetter schon zu lange an manchem Mauerwerk genagt. Aus eingestürzten Gauben, Erkern und dunklen Fensterhöhlen wachsen dünne Äste hervor, die sich verzweifelt nach der trüben Sonne recken.
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