Theos Magen meldet sich mit einem geräuschvollen Knurren, reflexartig legt sie die Hand auf ihren Bauch, so, als könne sie auf diese Weise das Grummeln unterbinden. Nach dem anstrengenden Marsch ist sie fast versucht, aufrechten Ganges in die traute Runde zu platzen und dreist um eine Malzeit zu bitten. Schlimmer als Elfis Portionen kann das Essen hier gar nicht sein, das steht für sie fest. Theo kann nicht recht erklären, was sie von dieser Idee abhält – aber, sie traut dem Braten nicht …
Noch bevor sie ihre Gedanken weiter sortieren kann, hört Theo ein verdächtiges Knacken direkt hinter ihrem Rücken. Bei dem Versuch, sich umzudrehen bleibt es. Ein unheimlicher Koloss packt sie fest um den Hals und dreht gleichzeitig ihren Arm auf den Rücken, der durch die Drehung fast auszukugeln droht. Ein brennender Schmerz durchfährt die Armmuskeln, als sei ihr Arm an eine 1000-Volt-Leitung geraten. Ein ekelhafter Gestank dringt in ihre empfindliche Nase, eine Mischung aus gebratenem Fleisch, Rauch, Erde und Urin.
Der Muskelprotz schleift Theo mit brachialer Gewalt zur Feuerstelle, fast hätte sie dabei ihre Brille verloren. Die Hitze der Flammen kommt ihr bedrohlich nahe. Sie fürchtet schon, ins Feuer geworfen zu werden, aber das hat der Herkules-Typ offenbar nicht vor. Theo wird brutal auf den Boden gedrückt, sie bekommt keine Luft. Sie hat das Gefühl, gleich ersticken zu müssen. Mit ganzer Kraft versucht sie sich dagegen zu stemmen, um wenigstens atmen zu können und den Zeh vor einer erneuten Verletzung zu bewahren. Zwei stahlharte Hände greifen nach ihrem Kopf und halten ihn fest wie eine Schraubzwinge. Nur unter größtem Widerstand ist es den Stahlpranken möglich, ihr Gesicht zum hellen Feuerschein zu drehen, von dem sie sich vorher abgewendet hatte.
Die übrigen erstarrten Grillfestteilnehmer streifen Theos Antlitz mit einem kurzen Blick, lediglich um festzustellen, dass das Mädchen für sie unbekannt und somit uninteressant ist.
Theo spürt am gesamten zitternden Leib, dass ihr Alptraum unvermindert anhalten wird, als sie in die Gesichter der Waldbewohner schaut. Deren Augen sind durch und durch tiefschwarz! Sie glänzen wie ausrangiertes Motoröl. Die Gesichter wirken alt und verschlissen, als bestünden sie aus gegerbtem Leder, das mindestens fünfhundert Jahre lang von der Sonne ausgedörrt wurde. Vollkommen verschrumpelt sehen sogar die Gesichter der Kinder aus, deren Alter Theo vielleicht nur anhand der Körpergröße einschätzen kann. Eine eiskalte Fessel des Entsetzens umschlingt Theos Herz, trotz der heißen Flammen in der Nähe.
Der Hüne löst endlich seine harten Griffel, sodass sie ihr Gesicht wieder in die kühlere Dunkelheit drehen kann. All die vorherigen Gefühle von Angespanntheit, Aufgeregtsein und Besorgnis sind aus ihrem Kopf verbannt, die blanke Angst ist zurückgekehrt! Sie fühlt nichts anderes als Demütigung, Entsetzen und wünscht, die Erde würde sich unter ihr auftun um sie zu verschlingen. Diese erschreckenden Eindrücke muss sie erst verarbeiten. Für einige Sekunden schließt sie die Augen, bis sie plötzlich aufschreckt, weil zwei Männer sich anbrüllen, als sei urplötzlich ein Krieg zwischen ihnen ausgebrochen. Noch nie hatte sie solche Laute gehört.
»Uaaarrk!«, worauf Theos Peiniger mit »Karraaka tormana!«, antwortet. Theo versteht jetzt gar nichts mehr. Mit dieser Ansammlung von Urlauten kann sie absolut nichts anfangen. Unwillkürlich muss sie bei dieser Unterhaltung an ihren Chemie-Lehrer Herrn Stadlober denken. Wenn der sein Urbayrisch vom Stapel lässt, klingt das ganz ähnlich …
Seltsamerweise steht Theo nach einer Weile nicht mehr unter Beobachtung, vielleicht hängt das mit der jähzornigen Brüllerei zusammen? Sie zieht ihren verletzten Fuß näher zu sich heran. Auch die Aufmerksamkeit der verschreckten Kinder lässt nach. Sie rennen ausgelassen um das Feuer herum, während die Mütter ihre schreienden Babys beruhigen. Etwas stiller reden nun die Männer miteinander, aber sie achten nicht im Geringsten auf ihren Gast. Hatten die etwa jemand anderen erwartet oder vielleicht sogar befürchtet? Oder hielten die mich für einen Spion, versucht sie einen Sinn für die ganze Aufregung zu finden. Theos Gedanken überschlagen sich, während sie versucht, sich einigermaßen gerade hinzusetzen, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dann schaut sie zu den Baumwipfeln hinauf, der Himmel hat inzwischen eine tintenblaue Färbung angenommen. Mittlerweile ist die Hitze erträglich und das Knistern leiser geworden, die Holzscheite sind fast verzehrt.
Die schwarzen Augen machen ihr Angst und die alten, zerfurchten Gesichter der Kinder ebenfalls. Beim Anblick der ganz alten Borkengesichter muss Theo an Roll-Mops denken. Wie gern wäre sie jetzt lieber im verhassten Sportunterricht (im Geräteraum), als hier in der unwirklichen Dunkelheit! Theo verharrt etwa eine Stunde regungslos auf dem Boden, ihr Magen knurrt inzwischen wie ein hungriger Wolf. Sie harrt der Dinge, die da kommen und wartet insgeheim auf einen Robin Hood, der sie aus diesem Grauen befreit, aber es tut sich nichts.
Als sich nach weiteren zehn Minuten noch niemand um sie bemüht, nimmt sie all ihren Mut zusammen, sie krabbelt vorsichtig auf allen Vieren zu einer großen Holzschale, in der sich Reste gebratenen Fleisches und beinahe abgenagte Knochen befinden. Ganz langsam hebt Theo den Arm und beobachtet dabei aufmerksam die alten Schorfgesichter. Nur kurz würdigen sie Theo eines Blickes und wenden sich dann wieder ihren Beschäftigungen zu. Theo führt ihre Hand in die Schale und zieht eine gebratene Rippe heraus. Dann kann sie sich nicht mehr beherrschen, Theo nagt das Restfleisch von diesem und weiteren Rippenknochen ab, dabei stopft sie den Mund so voll, dass sich der Unterkiefer kaum noch auf- und abbewegen lässt.
Plötzlich verharrt sie in dieser Bewegung und hockt da wie versteinert. Aus den Augenwinkeln beobachtet Theo, wie ein Mann mit wirren Haaren und kantigem Narbengesicht einen glühenden Ast aus dem Feuer zieht und wütend einem der Jungen nachwirft, der die ganze Zeit laut schreiend um das Feuer herumgesprungen war. Die Glut trifft ihn am Wadenbein. Er stürzt fürchterlich und schreit auf, sogleich beginnt er wie ein geprügelter Hund zu winseln, dass es Theo das Herz zerreist.
Das geht ihr jetzt aber eindeutig über die Hutschnur. Sie richtet sich mutig und erhobenen Hauptes auf und wendet sich mitleidig dem erbärmlich heulenden Jungen zu. Mit beiden Händen ergreift sie sein Bein und dreht es vorsichtig zum Schein des Feuers, damit sie sich die Verletzung genauer ansehen kann. Schlagartig beendet der Junge sein Geheule, schaut Theo kurz in die Augen und zieht blitzschnell sein Bein zurück. Dann verschwindet er in der Dunkelheit wie ein junger Fuchs, der sich aus einer Falle befreien konnte. ›Merkwürdig‹, denkt Theo, ›ist der es nicht gewohnt, dass man sich um ihn kümmert oder fürchtet er sich vor Fremden?‹
Sie kommt nicht dazu, diesen Gedanken weiterzuführen, weil der Mann mit den Eisenfingern (der ähnlich schäbig gekleidet ist wie der Flammenwerfer), zu einem fürchterlichen Gebrüll anhebt, das auch ein Neandertaler nicht grauenvoller hätte anstimmen können. Die Haarpracht dieses spitzgesichtigen, ziegenbärtigen Mannes besteht lediglich aus einer Halbglatze. Die wenigen kreisförmig angelegten Drahthaare stehen vom Kopf ab, als sei ein Zwergen-Ufo darauf gelandet.
Die Kinder, die Frauen und die Alten raffen sich auf, suchen gemächlich ihre Sachen zusammen und begeben sich schleppend in die Waldhütte, die Theo nur noch schemenhaft im Schein des fast abgebrannten Feuers wahrnehmen kann. Niemand schaut sich nach ihr um, niemand kümmert sich um sie. Zufrieden grunzend erhebt sich als Letzter das vernarbte Kantengesicht und schlendert in gebeugtem Gang der Tür der Hütte entgegen.
Nachdem ihn die Hütte verschluckt hat, packt Ufo-Kopf einen dicken Holzbalken, der neben der Tür steht und verschließt diesen damit von innen, sofort kehrt Ruhe ein. Theo fühlt sich einerseits erleichtert, weil ihr keine weitere Gewalt angetan wurde, andererseits beginnt sie zu begreifen, welche Abgründe sich hier auftun. Ist das Ganze Realität oder nur ein böser Traum? Es kann kein Traum sein, dafür spürt sie ihren zerschundenen Körper zu deutlich …
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