Theo richtet sich langsam auf und lässt sich sofort wieder ins Gras fallen, weil sie nicht glauben kann, was sie gerade gesehen hat.
»Was ist passiert? Wo bin ich? Wo ist unser Haus, mein Lesezimmer, einfach alles?«, sagt Theo mit erstickter, leiser Stimme zu sich selbst.
Ihr Mund ist trocken und das Schlucken fällt ihr schwer. Die Zunge liegt wie ausgedörrt in ihrem Rachen. Sie schließt die Augen wieder, aber nur für einen kurzen Moment. Theo liegt auf einer mit Steinen und kleinen Felsbrocken übersäten Wiese, die Teil eines steilen Abhanges ist. Als sie ihren Oberkörper erneut leicht aufrichtet, muss sie Acht geben, nicht die Balance zu verlieren und hinunterzurollen. Gespannt wendet sie den Kopf nach rechts und schaut den Abhang hinunter.
Die meisten Büsche und Sträucher um sie herum scheinen mit gelbgrauer und brauner Farbe getränkt zu sein, als hätten sie eine giftige Substanz aus der Erde gesogen. Das trockene Gras, auf dem ein gelblicher Schleier liegt, hat auch schon bessere Tage gesehen, denkt Theo.
Langsam dreht sie den Kopf nach vorn und peilt mit zusammengekniffenen Augen die entferntere Umgebung der unwirtlichen Gegend an. Es kann sich doch nur um einen schlechten Scherz handeln, um eine Inszenierung oder um eine … Bewusstseinsstörung?! Ist es nun so weit? Bin ich jetzt wirklich total übergeschnappt, durchgetillt, abgenippelt, hirnexplodiert, wirr, dement oder einfach nur durchgeknallt? Theos laute Gedanken sind plötzlich ruhig, zu beängstigend sind die Gefühle, die sie auf dieser kargen Wiese zu bewältigen hat.
Abermals versucht sie sich aufzurichten und spürt sofort einen stechenden Schmerz im rechten Bein. Ihren verletzten Zeh hatte sie in der Aufregung ganz vergessen. Fast beiläufig wirft sie einen kurzen Blick auf ihren Fuß und erkennt, dass der Fuß in einen Verband gewickelt ist. Verband? Wo ist die Orthese? Theo reckt sich nach vorn und betastet vorsichtig ihren Fuß. Tatsächlich! Der Orthese ist weg, einfach verschwunden! Stattdessen sieht sie, dass der Fuß mit einem einfachen, aber festen Stoffverband umwickelt ist.
»Wie lange bin ich ohnmächtig gewesen und wo ist die Fußschale geblieben? Sie kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen«, entfährt es ihr. Theos Augen verweilen einen Moment auf ihrer Kleidung. Dem kühlen Wetter angemessen gekleidet ist sie wenigstens. Sie trägt ihre blaue Jeans, deren rechtes Hosenbein wohl vom Arzt ein paar Zentimeter aufgeschnitten worden war und die schwarze Winterjacke, über ihren blauen, wollenen Lieblingspullover, den sie heute Morgen bereits in der Schule an hatte.
Ein weiterer Gedanke versetzt sie in Panik: »Die Kerzen! Ich habe die Kerzen brennen lassen. Paps bringt mich um, wenn er das sieht. Er müsste ja gleich nach Hause kommen. Hoffentlich richten sie bis dahin keine Katastrophe an!« Schon oft hat Theo Kerzen einfach abbrennen lassen, weil sie zwei Zentimeter über dem Kerzenhalter von selbst erlöschen, aber gilt das für alle Arten? Theo ist sich nicht sicher. Was hätte sie auch tun sollen, sie hatte ja nicht einmal eine winzige Chance sie zu löschen …
Allmählich bekommt sie es mit der Angst zu tun. Nein, Angst ist es nicht, versucht sie sich über ihre Gefühle im Klaren zu sein. Angst ist dieses grässliche Gefühl, das einen überfällt, wenn man ahnt, dass etwas Schreckliches passieren wird. Angst hatte sie damals verspürt, als Mama ihr von der Krankheit erzählte und sie nicht wusste, ob die Ärzte den Krebs in den Griff bekommen würden.
So schlimm wie damals kann es gar nicht mehr werden. Nein, jetzt ist sie angespannt, aufgeregt oder besorgt darüber, was das alles hier zu bedeuten hat.
Sonst sind ihre Gefühle immer so geradlinig und normalerweise leicht zu erklären, aber nun beschleicht sie ein mulmiges Empfinden. Etwas Ungeheuerliches muss geschehen sein und sie hat nicht den blassesten Schimmer, was es ist, geschweige denn, was sie daran ändern könnte. Zum ersten Mal in ihrem Leben, fühlt sie sich allein auf sich gestellt.
Als sie ihren Blick noch einmal über die Umgebung streifen lässt, erkennt sie in einiger Entfernung einen schmalen Pfad.
»Wo ein Weg ist, da ist Hoffnung«, spricht Theo sich selbst Mut zu. Es kostet sie unendliche Mühe, sich zu erheben und ihre Beine zu bewegen, die sich ungelenk anfühlen. Behutsam humpelt sie die unebene Wiese hinunter, indem sie ihr Gewicht vornehmlich auf den gesunden Fuß verlagert.
Theo hofft, auf dem Weg jemandem zu begegnen, der ihr aus dieser seltsamen Situation heraushelfen kann. Dennoch hat sie das unbestimmte Gefühl, als sprächen gewisse Umstände dagegen. Dazu gehört die Tatsache, dass sie mit einem einfachen Verband nicht weit kommen wird, aber auch, dass ihr die Gegend absolut fremd ist. Beim Anblick der kargen Hügel fühlt Theo sich an Schottland erinnert. Erst vor wenigen Monaten hatte sie einen Reisebericht über das schottische Hochland im Fernsehen gesehen.
Ihr Blick schweift über die weiten, zerklüfteten Abhänge und sie sieht nun auf einmal eine schmale, dunkelgraue Rauchfahne, die in der Nähe eines kleinen Laubwäldchens in den Himmel emporsteigt. Theos Herz macht einen Freudensprung, dort gibt es sicher Menschen, die ihr weiterhelfen können, hofft sie.
Nach etwa zwei Kilometern erkennt Theo, dass der Weg geradewegs in das Wäldchen hineinführt. Das Rauchfähnchen ist nun zu einer ausgeprägten Rauchfahne angewachsen. Der Qualm verteilt sich in den Baumwipfeln, deren Spitzen an manchen Stellen schon nicht mehr auszumachen sind. Theo glaubt, den Geruch von gebratenem Fleisch wahrzunehmen.
Eine weitere Viertelstunde später hat sie den Rand des Waldes erreicht – aus dem Wäldchen ist ein stattlicher Wald geworden. Sie schaut zum steilen Abhang zurück.
»Von da oben sieht alles viel kleiner aus«, sagt sie flüsternd und beugt sich hinab, um die Festigkeit des Verbandes noch einmal zu überprüfen.
Die Sonne versinkt langsam hinter den zerrissenen Hügeln und auf der gegenüberliegenden Seite walzt sich, unterstützt durch tiefschwarze Regenwolken, die Dunkelheit aus.
Vorsichtig folgt Theo dem Weg durch die Bäume, deren hohe Zweige ausgebreitet sind wie Baldachine. Etwas unscharf erkennt sie endlich den flackernden Feuerschein, ungefähr in der Mitte des Waldes. Die jetzt schon nachtschwarzen Bäume geben Theo das sichere Gefühl nicht sofort entdeckt zu werden, falls ihr irgendwer begegnen oder in ihre Richtung schauen sollte.
Theos Füße beginnen vor Anstrengung zu schmerzen, der weiche Waldboden schafft leider kaum Erleichterung. Der Schmerz des gebrochenen Zehs hält sich zu ihrer großen Überraschung in Grenzen, aber die Kräfte beginnen zu schwinden.
Ab hier geht sie nur noch in geduckter Haltung vorwärts, während sie sich vorsichtig der Feuerstelle nähert. Baum für Baum pirscht sie voran, sehr bemüht sich nicht durch Schleifgeräusche zu verraten oder versehentlich auf einen vertrockneten Ast zu treten.
Aus sicherer Entfernung beobachtet sie mehrere Gestalten, die um das Feuer herumlungern. Es sind vielleicht fünf oder sechs Erwachsene mit vier Kindern alle unterschiedlichen Alters. Auch zwei Babys kann Theo in den Armen ihrer Mütter ausmachen. Sie glaubt, dass es sich bei dieser Gruppe um eine Großfamilie, mit Großeltern, Eltern und Kindern handelt. Auf der linken Seite erspäht Theo eine graue Holzhütte, deren Fundament, das aus kleinen Findlingen besteht, ein Stückweit aus dem Boden ragt. Rechts neben der Hütte sind in separaten Verschlägen ein paar Ziegen, Schweine und Hühner untergebracht. Das Vieh mampft zufrieden aus den Futtertrögen, Theo vernimmt lautes Geschmatze und Gegrunze.
Die um das Feuer versammelte Sippe brät derweil grob zerteilte Fleischstücke über lodernden Flammen. Das Fett trieft spritzend ins Feuer, dessen Flammen sich immer höher recken, als wollten sie selbst das Fleisch verschlingen.
Читать дальше