»Wie bitte?«
»Ach, vergiss es«, raunt sie ihm zu und macht eine abwertende Handbewegung, dann fällt ihr ein: »Warum hat man mit dem Fixieren nicht solange gewartet, bis ich wieder aufgewacht bin?«
»Der Doktor war der Meinung, dass du gar nicht wirklich ohnmächtig warst. Alle Untersuchungsergebnisse ließen darauf schließen, dass du nur schläfst. Der Arzt vermutete, dass du simulierst – diese Unterstellung konnte ich ihm allerdings ausreden. Ich sagte ihm, dass du keinen Grund hättest, uns ein solches Theater vorzuspielen. Aber, lass uns bitte später darüber reden«, schlägt er abschließend vor.
»Du, Paps«, beginnt Theo nach einer Weile von neuem und schaut wieder in die malerischen Wolken an der Zimmerdecke, »ich vermisse Mama so sehr, aber ich kann mich schon nach einem Jahr nicht mehr richtig an ihr Gesicht erinnern. Natürlich kenne ich es von den Fotos, die wir zu Hause an den Wänden und in der Fotokiste haben. Aber, ich meine ihr Wesen, ihre Stimme, ihren Gesichtsausdruck, ihre Reaktionen und all das ... verstehst du mich? Alles verblasst in mir ... ich fühle mich deswegen so schuldig, irgendwie untreu.«
Theo hebt ihren Kopf ein wenig und schaut Paps fest an, als suche sie Halt in seinen Augen. Sie erkennt, dass seine graublauen Augen bei ihren Worten einen feuchten Glanz bekommen haben. Er bewegt seinen Oberkörper bedächtig nach vorn, stützt die Ellenbogen auf die Beine und legt die Hände ineinander. Dabei presst er seine Lippen zusammen, damit sie aufhören zu zittern und nickt bedächtig. Theo betrachtet Paps sorgsam. Sie vermutet, dass er unter den Folgen des Witwerdaseins viel mehr leidet, als ihr bisher bewusst war.
Innerhalb weniger Monate, unmittelbar nach Mamas Tod, waren seine Haare grau geworden, der gestutzte Bart ebenfalls. Sein gütiges Gesicht hat im letzten Jahr deutlich mehr Furchen bekommen.
»Mir geht es ganz ähnlich«, bricht Paps das Schweigen, »man sagt immer, die Zeit heile alle Wunden, aber ich glaube, in Wahrheit bedeckt sie die Wunden nur großzügig mit dicker Watte! Darunter bluten sie weiter, im Verborgenen.«
»Als ich vorhin aufwachte, fühlte ich mich traurig weißt du warum?«
Paps schüttelt etwas geistesabwesend den Kopf. Sie spricht nun gedämpfter:
»Weil ich Mamas Stimme diesesmal nicht gehört habe, ich habe dir doch davon erzählt. Damals war sie mir noch ganz nah, aber heute ...« Theo spürt, wie sich ihre Kehle langsam zuschnürt und das Sprechen wieder deutlich schwerer fällt.
»Die Erinnerungen lassen nach, das ist ein ganz normaler Vorgang, auch wenn man es schrecklich findet«, erwidert er und richtet sich auf.
Sie schaut auf die Orthese, die ihren gesamten Fuß umschließt, wie ein Kokon einen Schmetterling.
»Wie lange muss ich diese graue Eierschale tragen?«
»Doktor Wegmann sagte etwas von drei bis vier Wochen. Der Knochen ist kompliziert gebrochen, aber wenn du dich vorbildlich verhältst, steht einem schnellen Heilungsprozess nichts im Wege, meinte er. Mit dem ›vorbildlichen Verhalten‹ sind natürlich deine Ohnmachtsanfälle gemeint. Deswegen solltest du dich etwas eingehender untersuchen lassen.«
»Na logisch. Das hat aber wohl noch Zeit, oder?«
Plötzlich vernehmen die beiden das Stöhnen einer Patientin, die in der Nähe des Fensters liegt. Das daran anschließende Röcheln klingt so erbärmlich, als sei eine Operation noch in vollem Gange. Besorgt schauen sich Vater und Tochter an. Theo verzieht die Mundwinkel.
»Wie lange muss ich hier eigentlich liegen?«
»Bis du aufgewacht bist! Du kannst gehen, wann du willst«, wiederholt Paps die Empfehlung der Krankenschwester, dabei erhebt er sich. Theo kneift die Augen zusammen und formt ihren Mund zu einem stummen Schrei.
»Damit willst du sicherlich andeuten, dass du hier schleunigst raus willst, oder?«, vermutet Paps. Theo schließt ihren Mund und nickt heftig.
»Die Gehhilfen stehen hier neben dem Nachtschränkchen. Versuche mal ein paar Schritte damit zu gehen.«
»Gut, aber dann nichts wie raus«, zischt sie, »bevor ich von dem Geröchel wieder das Bewusstsein verliere.«
Paps geht hinaus auf den Flur und informiert den diensthabenden Krankenpfleger wegen der unruhigen Patientin. Unmittelbar darauf humpelt Theo mit den Krücken langsam in Richtung Fahrstuhl. Paps trägt ihre Schulsachen und einen Schuh hinterher, gemeinsam verlassen sie das St. Josefs-Hospital.
Seit Mama von ihnen gegangen ist, hat sich unglaublich viel verändert. Der Tagesablauf ist für Theo vor allem von Einsamkeit geprägt. Nachmittags trifft sie sich nur dann mit ihren Freundinnen, wenn sie nicht zu viele Hausaufgaben zu erledigen haben.
Tante Elfi kommt manchmal vorbei, sie sieht kurz nach dem Rechten oder wirft einen Blick in Theos Hausaufgaben. Da sie aber so gut wie keine Ahnung davon hat, bleibt es meistens bei einem sehr kurzen Blick. Manchmal bringt sie das Mittagessen, wenn sie für ihre eigene Familie zu verschwenderisch gekocht hat. Aber Theo glaubt, dass nur deswegen so viel übrigbleibt, weil niemand es herunter bekommt so schmeckt es jedenfalls. Oft sind die Portionen viel zu fettig. Das Zeug liegt ihr dann so schwer im Magen, dass sie sich nicht mal mehr auf ihre Hausaufgaben konzentrieren kann.
Heute ist wieder so ein Tag, an dem keine ihrer Freundinnen Zeit hat und Theo die Decke auf den Kopf zu fallen droht. Dann ist es so still im Haus, dass sie sogar die Wände wispern hört. Sie flüstern unentwegt, zuerst leise, kaum hörbar, dann immer lauter werdend ihre Geschichten, die sie während der letzten fünfzig Jahre in diesem Haus erlebt haben. Theo ist sich sicher, dass dieses Flüstern ein erstes Anzeichen für eine Psychose ist, an der sie früher oder später zu erkranken droht (das hatte sie in Paps Psychologie-Ratgeber gelesen).
»Meine liebe Theo«, sagt sie in solchen Augenblicken zu sich selbst und schaut in den ovalen Spiegel, der in ihrem Zimmer hängt, »du bist auf dem besten Wege durchzuknallen. Pass gut auf dich auf …«
Die einzigen Möglichkeiten jene Wisperstimmen zu vertreiben, sind, entweder die Musikanlage laut aufzudrehen, oder sich den heißgeliebten Büchern hinzugeben.
»Bücherbesessene«, hatte Mama sie früher genannt. Auf sie selbst passte dieser Titel natürlich auch, denn sie liebte Bücher ebenfalls besonders historische Romane. Paps verschlingt dagegen nur langweiliges Zeug, »Sachbücher«, nennt er sie. Das klingt schon so nach Staub und langweiligen Dingen, die niemand mehr wissen will.
Voller Erwartung öffnet Theo die Dachbodenklappe und zieht die Leiter aus der Verankerung, die zu ihrem neuen Lesezimmer hinaufführt. Mit einem dicken Wälzer unterm Arm, steigt sie wegen ihres Gipsfußes ganz konzentriert, Schritt für Schritt die Sprossen empor.
Oben angekommen, ist sie umgeben von zwei Dachziegelwänden, die nach oben hin spitz zulaufen. Auf dem mit einem roten Teppich ausgelegten Holzfußboden steht ein altes, aber sehr bequemes Plüschsofa. Unter einem klitzekleinen Milchglasfenster auf der Giebelseite, ruht ein brauner Elektro-Ofen, den Paps erst in der vergangenen Woche mit letzter Kraft durch die Dachbodenluke gewuchtet hatte. Auf der anderen Seite des dunkelroten Sofas steht ein kleines Bücherregal, das einige der für Theo wichtigsten Literaturschätze beherbergt.
Hier oben fühlt sie sich wie Rapunzel, ohne dass sie von einem Prinzen befreit werden müsste, sie genießt es, von allen unbemerkt über die Dächer von Emstekerfeld blicken zu können und der unheilvollen Welt ein Stückweit entrückt zu sein ja, sie liebt es, zwischen Himmel und Erde zu schweben.
Theo liest zum dritten Mal das Buch Tintenblut. Es ist jetzt die beste Jahreszeit dafür, wenn die Tage kürzer und die Schatten länger werden.
Sie schiebt den einzigen lockeren Dachziegel hoch und blickt auf die Straße hinab, die den schönen Namen ›Zur Kirschblüte‹ trägt, der wohl einer Zeit entstammt, als die Straße noch von Kirschbäumen gesäumt war.
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