Die Schale mit dem Fleisch und eine andere kleinere Holzschale, in der sich ein paar Kartoffeln befinden, hatten die Frauen vergessen mit ins Haus zu nehmen. Theo nimmt die Schalen an sich und beginnt schnell, die Reste zu essen, bevor wieder etwas dazwischen kommt. Die Nahrung tut ihr gut. Sie spürt mit jeder Sekunde, wie ihr Körper jene Kraft bekommt, die sie dringend braucht. ›Mit leerem Magen schläft es sich nicht gut‹, hatte Mama immer gesagt.
Auf einmal ist sie wieder da, die Erinnerung an den Klang ihrer Stimme! Auch Mamas lächelndes Gesicht erscheint vor Theos geistigem Auge. Eine Erinnerung, die nicht von den üblichen Fotos herrührt, sondern die aus den tiefsten Tiefen ihres Unterbewusstseins emporsteigt. Wie kann das sein? Warum muss erst etwas Schlimmes passieren, bevor die Erinnerungen zurückkehren, fragt sie sich.
Das Feuer erlischt, die Holzscheite glühen nur noch. Aus dem Dunkel kriecht die Kälte immer näher. Sie schleicht, gleich einem schwarzen Panther, der geduldig darauf wartet, sein Opfer jeden Augenblick anspringen zu können. Theo fühlt sich verloren, die Angst umschlingt ihren Magen und windet sich über die Wirbelsäule hinauf bis ins Gehirn.
All ihre Sinne sind von der Sehnsucht gedrängt, wieder zu Paps zu kommen. Zurück, einfach nur zurück! Sie verspürt nichts, als diesen brennenden Wunsch, aber das macht keinen Sinn. Sich in dieser Dunkelheit auf den Rückweg zu machen, wäre glatter Selbstmord!
Obwohl, sie braucht nur den Waldweg in die entgegengesetzte Richtung zu gehen, dann käme sie zum Ausgangspunkt ihrer Reise zurück … aber was dann? Wo ist das verflixte Tor in ihre eigene Welt und wie kann man es öffnen? Muss sie nur darauf warten, bis sie wieder das Bewusstsein verliert, das könnte Jahre dauern!
Und was ist mit den Gefahren, die unterwegs auf sie lauern? Wilde Tiere, die im Dickicht hungrig darauf warten, bis sie falsche Entscheidungen trifft …
Nein, solcher Gefahr will sie sich nicht aussetzen. Sie muss diese Nacht irgendwie hier im Wald überstehen, am besten in der Nähe des Hauses. Theo nimmt sich vor, erst morgen über einen Ausweg aus dieser verfahrenen Lage nachzudenken. Manchmal sieht die Welt am nächsten Tag ganz anders aus, wenn es wieder hell geworden ist, manchmal aber auch nicht …
Der Zeh beginnt wieder stärker zu schmerzen, außerdem juckt es unter dem Verband. Theo traut sich nicht, diesen zu lösen, aus Angst, eine eiternde Wunde oder ein anderer grausiger Zustand könnte sie darunter erwarten. »Und dann bekomme ich den Verband nicht mehr richtig fest«, sagt Theo zu sich selbst, erschreckt, ihre eigene Stimme zu hören.
Kühler Wind kommt auf und lässt die Bäume rauschen. Theo umschlingt ihren Oberkörper mit den Armen, als könne sie sich unverwundbar machen oder einfach nur vor der Kälte schützen. Es ist sinnlos.
Sie schleicht näher an die Feuerstelle, um nach übriggebliebenem Brennholz zu suchen und damit die Flammen neu entfachen zu können. Aber es ist zu dunkel, in der näheren Umgebung kann sie jedenfalls nichts auftreiben.
›Bei den Tieren ist es bestimmt etwas wärmer und die Hütte schützt ein wenig vor dem kalten Wind, der von oben in die Lichtung weht‹, überlegt sie. Leise nähert sie sich dem umzäunten Gehege und versucht im schwachen Mondlicht eine Decke, einen Sack oder etwas Ähnliches auszumachen. Theo muss dabei ihre Hände zu Hilfe nehmen, um das fehlende Sehvermögen auszugleichen, sie tastet sich am Zaun entlang.
Sie hat Glück, dort, wo der Zaun direkt an das Waldhaus stößt, liegt auf dem sandigen Boden ein rauer Teppich aufgerollt wie eine Wurst und gleich dahinter noch ein zweiter. Zudem entdeckt sie etwas weiter einen Mauervorsprung auf der Rückseite des Hauses, der Theo etwas Schutz vor den kühlen Fingern des Windes bietet. Hier breitet sie den staubigeren der beiden Teppiche aus, in den anderen rollt sie sich vollständig ein, nur ihr Gesicht schaut ein Stückweit heraus.
Zu ihrer großen Freude spürt sie, dass etwas Wärme durch den Teppich kriecht. Sie stammt aus dem Mauervorsprung, der, wie Theo glaubt, die Rückseite eines Kamins ist. »Ein Paradies in der kalten, dunklen Hölle …«, flüstert Theo in die Nacht hinein, schließt die Augen und ist der Welt augenblicklich für einige Stunden entschwunden.
Paps wäscht ihr mit einem Waschlappen durchs Gesicht, dann wieder und wieder und nochmal. Das Wasser ist angenehm warm, aber der Lappen mufft grottenfies.
»Paps, jetzt reicht es! Ich bin kein kleines Kind mehr, wie oft soll ich das eigentlich noch sagen? Lass mich das selbst machen …« Eine blitzsaubere Theo öffnet die Augenlider und sieht in die schwarzen, blutunterlaufenen Augen eines unglaublich hässlichen Hundes. Sie erschrickt fürchterlich. Nach längerer Betrachtung ist sie geneigt, ihn unter diesen Umständen als Höllenhund anzusehen. Er ist kohlrabenschwarz, klapprig dünn und stinkt wie die Pest. Der Gestank hat sich unmittelbar auf Theos Gesicht übertragen, weil der Höllenköter sein Schlabberorgan nicht bei sich behalten konnte. Sie verzieht angewidert das Gesicht und rollt sich steif aus dem Teppich. Mister Schwarzauge verliert das Interesse am neuen Camping-Gast. Er trabt zur dampfenden Feuerstelle und schleckt die restlichen Fleischkrümel aus den verwaisten Holzschalen. ›Waren die letzten Fleischbrocken etwa für ihn bestimmt?‹
Plötzlich öffnet sich die Hüttentür. Die beiden Frauen, die gestern Abend am Feuer saßen, kommen heraus und gehen wenige Meter zwischen den Bäumen hindurch, heben ihre Röcke an, hocken sich hin und verrichten die morgendliche Notdurft. Dabei schauen sie Theo so unverblümt an, als träfen sie sich seit fünfzehn Jahren allmorgendlich zu diesem Ereignis.
Theo schaut verlegen weg. Die Gesichter der beiden haben sich in ihr Gedächtnis eingeprägt.
Die Frau rechts hat eine lange hässliche Narbe über der linken Wange. Die wilde Haarpracht der Frauen ist schmucklos zu einem Zopf zusammengebunden, was die braun gegerbten Gesichter runder erscheinen lässt, als sie es tatsächlich sind.
Nach wenigen Minuten ist die Morgentoilette beendet, die Frauen ziehen sich rasch in die Waldhütte zurück.
Durchdringendes Männergebrüll lässt plötzlich die Hauswände erbeben. Die massive Holztür fliegt wieder auf und sogleich poltern zwei Jungen auf den Waldweg. Einen der beiden erkennt Theo als denjenigen wieder, der sich gestern verletzt hatte, sich aber nicht untersuchen lassen wollte. Sie nehmen sich einen großen Tonkrug von der dampfenden Feuerstelle und verschwinden gehetzt in den Wald. Nach wenigen Minuten eilen sie zurück. In dem Krug befindet sich Wasser. Der Junge, der den Krug trägt, balanciert ihn vorsichtig über die Türschwelle. Nachdem die Tür zugezogen worden ist, versucht Theo durch ein kleines offenes Fenster zu spähen, das sich links vom Mauervorsprung befindet. Die Düfte von frischem Brot, geräuchertem Schinken, Kümmel, Getreidekaffee und Alkohol dringen ihr in die Nase.
Der Junge mit der Brandwunde am Bein sieht Theo am Fenster, kommt herausgelaufen und zerrt sie an ihrer Jacke zum Eingang. Nur widerwillig geht sie mit hinein. Ein kleines Mädchen schließt hinter ihnen die Tür. In der rechten Ecke entflieht gerade eine Maus durch ein kleines Loch in der Holzwand. Die ganze Sippschaft sitzt versammelt um einen Tisch und verschlingt gierig und schmatzend das rustikale Frühstück. Auf der eckigen Tischplatte stehen Schinken, Käse, Eier und Brot, dazu eine hellbraune Paste, ein Krug mit Getreidekaffee sowie ein Krug mit Bier. Theos Blick schweift durch den schlicht eingerichteten Raum, der die gesamte Waldhütte ausfüllt. Alles, was die Großfamilie zum Leben benötigt, ist hier untergebracht. Der Tisch, Stühle, Regale, ein Spülbecken aus Stein und Schlafkojen, die wie Regale an drei Wänden übereinander angeordnet sind. Theo nimmt an, dass sich vier Kinder ein Bett teilen müssen oder zum Teil in den Betten der Eltern schlafen. An der rückwärtigen Wand befindet sich der breite Kamin, in dem gerade frische Brotfladen gebacken werden. Links davon steht der schwere Spülstein für den Abwasch, bestehend aus über- und nebeneinander gestapelten Holz- und Tongefäßen.
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