Nirgends kann Theoe Farben, Bilder oder bunte Stoffe sehen. Selbst die Kleidung der Bewohner ist schlicht dunkelbraun oder grau, die Möbel sind nicht im Geringsten durch Schnitzereien oder Einlegearbeiten verziert. Nur dort, wo man sich stoßen konnte, wurden die Ecken und Kanten des Tisches, der Regale und Betten abgehobelt, abgeschliffen oder sie sind einfach abgenutzt.
Die gewebten Teppiche, die in Dreier- oder Viererschichten übereinander liegen, sind dick und grau. Sie erfüllen lediglich einen Zweck, nämlich die Hütte vor der aus dem Erdreich kriechenden Kälte zu schützen, nicht mehr und nicht weniger.
Der Jüngling, der Theo vorhin ins Haus zog, blickt sie mit seinen schwarzen Augen herausfordernd an, greift nach einem Stück Brot, das mit der hellbraunen Paste bestrichen ist und legt es ihr mit ernster Miene in die Hand. »Danke!«, sagt Theo erstaunt und amüsiert sich im Stillen über seine struppigen Haare. Sie setzt sich auf eine Bettkante und beginnt das trockene Brot zu essen.
Der Aufstrich schmeckt nach einer Mischung aus Kümmel und Nüssen. Das Brot ist so trocken, dass es ohne Aufstrich sicher wieder zu Mehl zerfallen wäre. ›Schade, dass das Brot im Ofen noch nicht fertiggebacken ist‹, denkt Theo.
Sie schaut in die Gesichter der Schmatzenden, die Theo fast gar nicht beachten. Während die Großfamilie sich grunzend und schnaubend an der Mahlzeit labt, blicken die Erwachsenen stur auf die Tischplatte.
Tischmanieren sind hier so unbekannt, wie ein Schuljahr ohne Hausaufgaben. Theo fasst nach einem henkellosen Becher und gießt sich etwas von dem ›Kaffee‹ ein. Die warme Brühe erscheint ihr etwas zu grün für Getreidekaffee, vielleicht war es noch gar nicht reif, als das Getreide geerntet wurde …
Mutig nimmt Theo einen Schluck und verzieht sogleich angewidert das Gesicht. Das Zeug schmeckt wie eingeschlafene Füße am Wandertag. Sie blickt in die Gesichter der älteren Herrschaften und fühlt sich beim Anblick der Großmutter an einen grauen, verdorrten Baum erinnert. Das Gesicht des Alten dagegen ist braungebrannt, aber zerfurcht wie weiches, gebogenes Knäckebrot.
Plötzlich schreit der Großvater laut auf: »Taogara urka!« Alles ist still, niemand rührt sich. Theo hält vor Schreck den Atem an, sie lässt ihren Kaumechanismus einfrieren. Nicht weit entfernt hört man dumpfe Trommelschläge, deren Schallwellen unheilvoll und ausdauernd durch den Wald dröhnen.
Ufo-Kopf und Kantengesicht stürzen nach draußen, um die Herkunft des immer wiederkehrenden Donnerns auszumachen. Die ganze Szenerie wirkt auf Theo sehr beängstigend. Wild gestikulierend stapfen die Männer wieder herein und blaffen ihre Frauen an. Diese schrecken zusammen und wenden sich ihren Säuglingen zu. Die Alten beginnen die kleineren Kinder und sich selbst warm anzuziehen, alles läuft wie ein Film vor Theos Augen ab, als wäre die Familie seit langem auf diesen Moment vorbereitet gewesen.
Dann geht alles relativ schnell. Von einer Weide, außerhalb des Waldes, treibt das vernarbte Kantengesicht zwei Ochsen zur Waldhütte, die der Ufo-Kopf sogleich vor einen Karren spannt. Die Alten setzen sich auf desen Karren, die Mütter legen die dick und warm eingepackten Säuglinge zu ihren Füßen und decken sie mit einer rauen Wolldecke zu. Anschließend laufen sie zurück ins Haus, um gleich darauf vor Anstrengung keuchend wieder zu erscheinen, in den Händen halten sie die frisch gebackenen Fladenbrote.
Ufo-Schädel treibt brüllend und mit einem Stock wild umherfuchtelnd die Ochsen an, ihm kann es gar nicht schnell genug gehen, während Kantenkopf die Frauen und Kinder anschreit – vermutlich sollen sie sich beeilen.
Theo begreift die ganze Hektik nicht. Sind sie in akuter Gefahr und sind die Trommeln Vorboten einer unausweichlichen Katastrophe? Egal, eine Antwort erhält sie sowieso nicht. Theo fasst den Entschluss, sich an der Flucht zu beteiligen, vielleicht ist das die einzige Möglichkeit, um wieder nach Hause zu gelangen.
Der Höllenhund bleibt wie angewurzelt neben der Hütte stehen, er hat wohl den Auftrag Haus und Hof zu bewachen. ›Was gibt es da eigentlich zu bewachen‹, fragt Theo sich.
Die Frauen haben alle Mühe, ihre Kinder beieinander und mit der Geschwindigkeit des Karrens Schritt zu halten. Auch Theo humpelt derart langsam hinterher, dass sie kaum mithalten kann.
»So ein Mist! So komme ich nie nach Hause!«, schimpft sie. Theo beißt die Zähne zusammen, stapft etwas schneller und wagt es, sich am Karren hochzuziehen, um neben der Großmutter Platz zu nehmen. Niemand beschwert sich, kein Mann schreit, die Großmutter schaut nicht einmal auf, auch die Kinder protestieren nicht – es interessiert niemanden.
»Ich bin sonst gar nicht so, aber ich muss eben alles versuchen, um nicht unter die Räder zu kommen. Mit Höflichkeit komme ich bei euch ja leider nicht weiter …«, sagt Theo an die Großmutter gerichtet, deren Gesicht aber nichts als Teilnahmslosigkeit erkennen lässt. Theo findet es sehr ungewöhnlich, dass niemand auch nur das geringste Interesse an ihr zeigt, mit Ausnahme eines Jungen.
Während sie so in die zerfurchten Baumgesichter blickt, fällt Theo noch etwas auf. Die Erfindung des Lächelns scheint sich in diesem Landstrich wohl noch nicht herumgesprochen zu haben.
Die beschwerliche Reise geht über Hügel und Täler, über Brücken und durch schlammige Furten, in denen die Räder immer wieder stecken bleiben. Sie kommen oft an Bächen vorbei, halten einige Male an, um daraus zu trinken und die Ochsen zu tränken.
Verstohlen schaut Theo auf ihre Armbanduhr. Seit fast zwei Stunden ist die Großfamilie mit ihrem Fahrgast unterwegs.
Das dumpfe Dröhnen der Trommeln ist zwar beträchtlich leiser geworden, aber weiterhin deutlich hörbar. Wenn Theo die Gesichtszüge der Männer und Frauen richtig deutet, dann sind es die Trommelsignale, die der Familie den Tag gründlich vermiest haben. Die Fahrt auf dem Ochsenkarren ist für alle Beteiligten eine ungeheure Anstrengung. Theos Wirbelsäule spürt inzwischen jede kleine Unebenheit auf dem steinigen Weg und meldet unentwegt die gleiche Botschaft an ihr Gehirn: SCHMERZ.
Gleich hinter einer Hügelkuppe, die links und rechts des Weges von verwelkten Blüten und braunen Samenständen umsäumt ist, taucht auf der linken Seite eine kleine Ortschaft auf, die bei näherer Betrachtung Unheil verheißt.
Der Anblick, der sich den Reisenden schon während der Anfahrt bietet, ist grauenvoll. Das Dorf muss erst vor kurzem fluchtartig verlassen worden sein. Viele Häuser waren niedergebrannt worden. Die Ruinen recken wie warnende Fingerzeige in den grauschwarzen Himmel, der Gestank von verkohltem Holz und verendeten Kadavern erfüllt die Luft. Die Gegend liegt unter einer Dunstglocke, der hohe Luftdruck ermöglicht dem Rauch kaum Abzug. Aus einer schwarzen Ruine, die sehr weit im Hintergrund liegt, qualmt es noch beträchtlich, dieses Haus muss als Letztes angezündet worden sein. Ein paar Katzen streunen orientierungslos über die Trümmer, sie suchen vergeblich nach vertrauten Gesichtern.
Das Knäckebrotgesicht des Großvaters gibt irgendwelche Laute von sich, die wohl niemand wiederholen kann. Der Karren stoppt mit einem Ächzen und Stöhnen der Achsen und Räder, die Großeltern steigen ebenso geräuschvoll von der Sitzbank. Eilig stärken sich die Frauen und Kinder mit Brot, während die Männer die Ochsen mit frischem Heu und Wasser versorgen. Großvater und Großmutter teilen sich ein kleines Stück geräucherten Schinken.
Während alle beschäftigt sind, humpelt Theo eine kleine Böschung hinauf, um das verlassene Dorf besser überblicken zu können. Sie nutzt die Gelegenheit, um sich auch die Kätzchen näher anzuschauen – es sind Theos Lieblingstiere. Ein kleines, weißes Kätzchen mit grauen Tigerstreifen und runden, schwarzen Knopfaugen nähert sich ihrer Hand, es lässt sich bereitwillig streicheln.
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