Hinter der juristischen Formulierung, fahrlässige Körperverletzung mit Todesfolge, steckte nichts anderes als ein vermeidbarer, also doch tatsächlich fahrlässig herbeigeführter Autounfall. Damals Mitglied der Kampfgruppe seines Betriebes, war er eines Nachts aus dem Bett zu einer Übung gerufen worden, hatte immerhin so viel Verstand besessen, sich mit dem Hinweis zu weigern, schwer berauscht nach einer Familienfeier gerade nach Hause gekommen zu sein. Schließlich war ihm vom Kommandeur der Truppe die Wahl gelassen worden, ein Parteiverfahren mit nicht abzusehenden Folgen hinzunehmen, oder die Fahrt anzutreten, zwei andere zur Übung abzuholen. Daß er nach zwei Tassen starken Kaffee nüchtern und fähig wäre, das Auto zu beherrschen, erwies sich als Fehlentscheidung. In einer Kurve verlor er die Herrschaft über den Wagen, prallte gegen das Wartehäuschen einer Buslinie und riss eine junge Frau in den Tod, er schleifte sie mit, ohne es überhaupt zu bemerken, und wurde erst aufmerksam, als ihn der Beifahrer anschrie und ins Lenkrad griff.
Bei der Voruntersuchung war dies alles festgestellt worden; inzwischen aber kannte jedermann im Kreis den haarsträubenden Fall. Aber auch die Justiz war in der Klemme; sie konnte sich nicht dumm stellen, musste aber ein klares Urteil vor der Öffentlichkeit begründen.
Von der Staatsanwaltschaft war Morak zugesichert worden, daß in dieser Strafsache ein Scheinurteil ergehen werde, falls er kooperativ sei und nicht auf der Version beharre, ihm sei keine Wahl geblieben. Zwischen Strafrecht und Parteidisziplin bestehe kein Unterschied, es gäbe also nicht etwa zweierlei Recht; er gab nach. So kam es zunächst auch, in der Hauptverhandlung bekannte er sich schuldig, erhielt drei Jahre Haft ohne Bewährung, was automatisch den Parteiausschluss nach sich zog und natürlich Ehrverlust und die Entlassung von einem leitenden Ingenieurposten. Immerhin saß er wirklich nur einige Monate ab, wurde begnadigt, die Strafe wurde außer Vollzug gesetzt. Im Knast hatte Morak Zeit genug gehabt, über sich nachzudenken, und war zu dem Schluss gekommen, daß es ihm an moralischen Mut mangelte, zumal ihn die durch sein menschliches Versagen Getötete bedrückte. Sein Fall hatte einen exemplarischen Charakter, jeder handelt für sich allein verantwortlich. Jetzt wollte er frei sein, die ganze Freiheit haben, um nach seiner Einsicht zu handeln. Man akzeptierte, um nicht noch mehr Staub aufzuwirbeln, und ermöglichte Morak die unauffällige Existenz eines kleinen Selbständigen.
Bei dieser Gelegenheit war es also zur ehelichen Gütertrennung gekommen. Zwar ging der Fall Morak dem öffentlichen Gedächtnis schließlich verloren, hatte aber Folgen ganz anderer Art. Seine Frau übernahm als Wiedergutmachung zuerst eine Pflegschaft über Hanna und holte sie bald mit Zustimmung des Arztes und dem Vormundschaftsgericht zu sich. Das Kind hatte bei der Geburt einen Hirnschaden erlitten, der Nachlässigkeit oder der Unwissenheit eines Arztes geschuldet, der den Kaiserschnitt zu spät eingeleitet hatte, als der Kopf des Kindes schon längere Zeit, jedenfalls zulange, im Geburtskanal stecken geblieben war und Sauerstoffmangel eintrat. Die Mutter überlebte die zu spät vorgenommene Operation nicht, und ihr Kind behielt einen Hirnschaden, dessen Folgen im Laufe der Jahre zwar gebessert werden konnten, aber ein vollwertiges Leben, kaum ein Erwerbsleben, würde das Mädchen führen können, es war also auf Hilfe angewiesen. Dies lag mehr als zehn Jahre zurück und hatte das Leben der beiden Eheleute bestimmt.
Mit dem Tode der Frau und Pflegemutter, als der Nachlass der Verstorbenen geordnet wurde, fand sich der Hinweis auf ein Testament in Händen eines Anwalts zu Gunsten ihrer Ziehtochter; dem Witwer sollte die Vormundschaft für dauernd übertragen werden. Nach dem Willen der Verstorbenen sollte er das Haus verkaufen, und den Erlös als Sicherheit für die Ziehtochter anlegen. So etwa der Stand der Dinge. Morak sah sich in einer Verpflichtung der Toten gegenüber, aber in den Jahren hatte er sich zudem an dieses kindliche Wesen um sich gewöhnt, das ihm bedingungslos vertraute, und das ihm auch eine gewisse Hilfe war. Da er sie nicht allein lassen konnte, war er auf den Einfall gekommen, eine neue Ehe einzugehen. Daß die Geschwister der Toten deren Verfügung auch anfechten könnten, darauf wäre er als Nichtjurist wie als Betroffener und Hinterbliebener nie gekommen. Erst auf dem Weg ins Hotel Zum Adler war ihm durch seine mundfertige Schwägerin vor Augen gehalten worden, daß die leicht Schwachsinnige, ein Hindernis bei einer neuen Ehe sein könnte.
»Die Sache mit dieser Frau hat sich von selbst entwickelt«, erklärte er nach dieser Beichte auf dem Weg, »ich muss sie nun auch durchstehen.«
»Was meinst du jetzt mit durchstehen? Das mit deiner Neuen? Deshalb hast du mich gerufen? Als Anstandswauwau! Da hast du dich vielleicht eine schöne Lage gebracht, mein guter Junge!«
Sie hätte sich die Frage vorlegen können, welche Rolle sie hier spielen wollte. Allein sie stand wie auch er vor einer ungeöffneten Tür, und er mochte recht haben, wenn er ihre kühnen Behauptungen und Drohungen nicht ganz ernst nahm. Sie hielten jetzt alle drei Schritt.
»Wenn du schon keinen Rat annehmen willst, Felix, sondern dickköpfig alles allein entscheiden willst, bitte, dann hättest du mich zu Hause lassen sollen, anstatt mich mit dem Versprechen herzulocken, ja, welchem eigentlich?«
Sie lachte, ihre weißen Kunstzähne bis zu dem Rest rosigen Zahnfleisches entblößend. »Praktisch bist du ja, Felix, und schließlich ist dieses Trampel hier ja auch so etwas wie ein Mensch.« »Ich habe es mir so gedacht; Hanna und du, ihr nehmt ein Zimmer, ich nehme auch eins, ich kann hier doch nicht mit ihr in einem Zimmer schlafen. «
»Ja, siehst du«, sagte Isolde befriedigt, »meine Rede. Zu wann ist denn der Anwalt bestellt?«
»Gar nicht. Er erwartet uns im Gericht. Wir müssen ins Notariat, wir gehen, sobald ihr fertig seid; es ist nicht weit.«
Indessen gab es beim Hotelempfang noch einige Schwierigkeiten. Der Angestellte hinter dem Tresen blätterte in seinem Buch mit den vorbestellten Zimmer, fand endlich, was er suchte und bedeutete dem Gast, daß sich unvorhergesehen etwas geändert habe. Die drei standen vor dem Tresen, der Mann dahinter zeigte stumm, mit vielsagendem Gesichtsausdruck auf eine Gruppe Männer, ziemlich gleich gekleideter Männer, in einer Ecke und sagte vorsichtig: »Lesen Sie keine Zeitung?«
»Nein«, sagte Morak, »sollte ich?«
»Wir kriegen eine Atomfabrik, sollte Sie vielleicht doch interessieren. Höchste Sicherheit! Ich dürfte Sie eigentlich gar nicht aufnehmen, weil Sie hier ihren Wohnort haben. Ich riskier es! Machen Sie mir also keine Schwierigkeiten.«
Dann gab er ihnen die Zimmerschlüssel und machte darauf aufmerksam, daß es in den nächsten Tagen vielleicht zu Störungen im Tagesablauf kommen könne.
»Aber für unsere Hotelgäste wird im Frühstücksraum serviert werden.«
Im zuständigen Kreisgericht, einem erhabenen alten Bauwerk aus Hartklinker und hohen Doppelfenstern, residierten zwei staatliche Notare, hielten Sprechstunde und fertigen Urkunden, wie eh und je; dies war insofern praktisch, als das Katasteramt mit seinem Archiv ebenfalls im Gerichtsgebäude untergebracht war und Grundbuchauszüge ohne viel Lauferei immer bei der Hand waren. Sonst war die Amtsstube, in die jetzt die drei Besucher eintraten, wie alle Notariate mit Schreibtisch und Aktenschrank und einigen Sitzgelegenheiten davor ausgestattet. Mit der offiziellen Testamentseröffnung mussten sie auf den Anwalt der Verstorbenen warten; mit etwas Verspätung fand sich der Rechtsanwalt ein, reichte dem Notar die Hand und erkundigte sich nach dem Stand der Verhandlung. Er konnte beruhigt werden; man habe auf ihn gewartet. Er setzte sich nach einem genickten Gruß. Morak war einige Tage zuvor von ihm zu einer Vorbesprechung geladen worden. Der staatliche Notar kannte die jugendliche Erbin bereits, wie auch ihren von der Toten vorläufig bestellten Vormund; die Schwester der Verstorbenen war ihm noch unbekannt. Er nahm ihre Personalien auf, nahm zur Kenntnis, daß sie auch ihre andere Schwester in der Erbschaftssache vertrat, erbat sich die schriftliche Vollmacht und musterte sie unauffällig, während er ihr sein Beileid zum Tode der Schwester aussprach, was durchaus geläufig und geschäftsmäßig klang. Dann überließ er dem Anwalt das Wort. Ebenso trocken verlas der den Text des Letzten Willens der Verstorbenen, und dieser letzte Wille hatte es in sich. Ferner machte er die Schwester der Erblasserin amtlich mit dem Umstand bekannt, daß Herr Felix Morak mit vorläufiger Pflegschaft der minderjährigen Hanna Behrend betraut werden sollte, vorausgesetzt die Dienststellen erhöben keinen Einspruch. »Womit ich aber nicht rechne«, flocht er beruhigend und weniger amtlich ein. Dann fuhr er sachlich fort, der Verkauf des Hauses könne, wie von der Erblasserin vorgeschlagen, eingeleitet werden, und der Einrichtung eines Kontos zugunsten der Erbin sei vom Vormund der Erbin bereits mündlich zugestimmt worden. Bisher fehlte also nur noch die Erklärung des gesetzlichen Erben, das Testament anzunehmen.
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