Kira hatte Recht – je größer Charisa´s Entschlossenheit wurde, desto größer war ihre Kraft. Doch das Mädchen blickte ungläubig auf die zerschmetterte Wand. Hatte wirklich sie gerade so einen gewaltigen Schaden angerichtet? Sie ganz allein? Ihr Schmerz riss sie aus ihren Gedanken. „Charisa, bist du in Ordnung?“, fragte Barrex, immer noch hochkonzentriert. Man konnte ihm die Sorge um seine Kameradin kaum anhören, auch, wenn er besorgt war. „Nein, ich bin an der Schulter getroffen...“, rief sie durch den Raum zurück. Sie stand durch den plötzlichen Treffer der Wache unter Schock und dachte nicht daran, ihr Headset zu benutzen. „Ich komme zu dir!“, meinte Barrex, immer noch über Funk. „Nein, wir treffen uns beim Waver! Die Anderen brauchen uns... Und das waren alle Gegner...“ „Woher weißt du das?“, fragte der Nyoma überrascht. „Du hast zwei ausgeschaltet, ich habe zwei ausgeschaltet... Es waren nur Vier...“, murmelte das Mädchen halb in Trance, während sie sich auf unsicheren Beinen auf den Weg durch das Labyrinth aus Akten und Ordnern zum Waver machte. Doch sie hätte die gekonnten Bewegungen des Elite-Polizisten gar nicht beobachten können.
Barrex fragte nicht weiter nach, sie hatten Wichtigeres zu tun, doch er war etwas irritiert, vor allem deswegen, weil Charisa Recht hatte. Woher wusste sie, wie viele Feinde er ausgeschaltet hatte? Hatte sie die Schüsse abgezählt? Aber woher hätte sie wissen sollen, ob die Schüsse von den Wachen oder von Barrex stammten? Die Beiden erreichten den Waver und stiegen ein, Barrex flog direkt unter den Durchbruch zum oberen Stockwerk, sodass Darren und Kira hinab in das Fahrzeug klettern konnten. Sie hatten im höher gelegenen Teil des Archivs ein Chaos aus geöffneten Schubladen und durch die Gegend geschmissenen Akten hinterlassen, außerdem hatten sie ihre eigenen Brandsätze im Archiv verteilt, um die Akten und die vielen Datenträger, die sich ebenfalls in den Schubladen befanden, zu zerstören. Die Meditazia kümmerte sich auf der rot gepolsterten Rückbank sofort um Charisa´s Wunde. Sie hatten keinerlei medizinische Ausrüstung dabei, deswegen musste Kira ihren Pullover ausziehen und einen Druckverband improvisieren, bis sie bei Adnia angelangt wären. Die Heilerin hätte die Wunde schnell verschließen und so auch die Entzündung, die sich nun durch die Stofffasern des Pullovers unweigerlich entwickelte, weitestgehend durch eine schnelle Heilung unterbinden können.
Barrex wollte das Fahrzeug nun wieder in den langen Zentralgang hinein manövrieren, doch dann erspähte er über die Aktenschränke hinweg das Loch in der brutal eingerissenen Wand und die durchbrochene Außenfassade. Das konnte nur Charisa getan haben. Selbst er war etwas schockiert über dieses Bild, und er hatte schon so Einiges in seinem Leben erlebt. Auch Kira war überrascht von Charisa´s Kraft; und das, obwohl die Beiden noch kaum zusammen trainiert hatten. Eigentlich hätte ihre Schülerin nicht einmal annähernd so eine Gewalt entwickeln dürfen, nicht einmal im Angesicht des Todes. In dem jungen Mädchen musste eine gewaltige Energie schlummern. Barrex ließ sich durch dieses zerstörerische Bild nicht aus seiner Konzentration reißen, auch wenn es ihm unheimlich erschien; er flog jetzt statt durch den Siphon im Innern des Firmengebäudes durch die eingerissene Wand des Archivs hindurch und schob das zusammengequetschte Regal in der zerstörten Außenmauer, das nur noch auf halb Acht über der Kante der zerstörten Wand hing, mit der Vorderseite des Fahrzeugs aus dem Gebäudekomplex hinaus, damit der Waver durch den großen Riss passte. Durch den Riss hindurch zu fliegen, konnte ihnen sicher mehrere wertvolle Minuten an Zeit verschaffen, außerdem konnten sie so unnötigen Kämpfen aus dem Weg gehen. Kaum hatten sie den Firmenkomplex verlassen, zündete Kira die ferngesteuerten Brandsätze im Archiv, um alle Datenträger und Akten zu zerstören. Dann flog der Elite-Polizist gekonnt mit vollem Tempo in Richtung des Festplatzes, in die Richtung, in die auch Jack mit seinen Begleitern geflogen war, während er sein Fahrzeug zum Boden absinken ließ. Sie hatten keine Zeit zu verlieren; die Anderen brauchten umgehend Unterstützung und Charisa benötigte sofort Adnia´s Heilkräfte. Der improvisierte Druckverband tat nur bedingt das, was er tun sollte; der Pullover saugte sich zu schnell mit ihrem Blut voll. Sie benötigte schnell medizinische Hilfe, sonst wäre sie verblutet.
Das Fahrzeug flog über die Wiese vor der Firma hinweg und schnellte dann zwischen den Häusern hindurch, doch Barrex bremste nach nur einer halben Minute das Fahrzeug ab und schwebte an einer der Hauswände empor. „Sie haben Al...!“, meldete Eike plötzlich bestürzt über sein Headset. „Verdammt...“, entfuhr es Barrex leise, während er die Spitze des Gebäudes erreichte. Von dort aus hatte er den besten Überblick über die Umgebung. Der Pilot und seine Mitfahrer sahen sich um. „Wir können ihn da nicht herausholen, sonst töten die uns auch...! Es tut uns Leid...!“, stammelte Josh entsetzt. Er und auch Adnia, Gero und Dana wollten helfen, aber sie konnten nichts tun. Wenigstens hatten sie es Dank Al´s Einsatz geschafft, Jadon, Jack und Jay aus dem Keller zu retten. Barrex, Charisa, Kira und Darren konnten in den luftigen Höhen zwischen den Wohngebäuden zunächst nichts erkennen. Die vielen Hochhäuser versperrten die Sicht auf einen Großteil der Wege. „Flieg da herunter...!“, meinte Charisa auf einmal, während sie zwischen zwei niedrige Häuser zeigte, die sich inmitten zweier hoher Wolkenkratzer befanden. „Was ist da?“, fragte Barrex. „Al... Wir müssen ihn da sofort herausholen... Er ist schwer verletzt...“, murmelte das Mädchen, benommen durch den Blutverlust. Und langsam wurde auch ihre Atmung schwerer, denn durch die Verletzung des Rippenfells lief ihre Pleurahöhle, der Spalt zwischen Lunge und Rippen, der für die Atmung von größter Bedeutung ist, langsam mit Blut voll.
„Bist du sicher?“ „Ja... Schnell...“ Barrex tat, wie geheißen, und tatsächlich – wenn man dem Weg zwischen den beiden Häusern folgte, sah man den Gravianer. Al lag mit dem Gesicht zu Boden auf einer Wiese vor der Tür eines schwarzen Wolkenkratzers, mit stabilen Hand- und Fußschellen, umringt von einem dutzend Glanzhäuten und zwei Einsatzfahrzeugen der Aliens. Der Gravianer hatte mehrere, tiefe Fleischwunden am Rücken und war ohnmächtig. Die Spezialkommandotruppen mussten explosive Geschosse gegen ihn angewandt haben. Nicht die kleinen, die unsere Leute aus Diyu kannten; es mussten äußerst effiziente Projektile gewesen sein, wenn sie einem Gravianer solche Wunden zufügen konnten. Die Beamten erblickten Barrex und die Anderen über den gepflasterten Weg entlang und nahmen den Waver, Al´s letzte Chance auf Rettung, ins Visier, woraufhin Barrex sein Fahrzeug schnell in Deckung und dann hinter den Häusern entlang bewegte. „Darren. Kira. Ihr müsst schießen.“, sagte Barrex deutlich und öffnete die Glaskuppel des Hovercars, während er das letzte Gebäude der Häuserreihe, das er als Schutz nutzte, umflog, damit Kira und Darren von einer unerwarteten Position aus schießen konnten. So hatten sie eine höhere Chance, die Beamten zu treffen. Doch dann erlebten die Silizoiden eine unerwartete Überraschung, denn Al hob plötzlich vom Boden ab und flog schnurgerade nach oben. Charisa hatte die Fesseln des verwundeten Gravianers mit ihrer Energie erfüllt und holte ihn aus seiner Todesfalle heraus, indem sie die Siliziumcarbidketten durch ihre Fähigkeit anhob. Die junge Frau drehte ihren Kameraden um, sodass die Hände hinter seinem Rücken zum Planeten gewandt waren und er auf seinen Armen lag; sonst hätte sie ihm womöglich die Schultern ausgekugelt.
„Feuer!“, sagte Barrex laut, während er sein Fahrzeug nach rechts um das Haus herumdrehte und gleichzeitig einen seiner letzten beiden Brandsätze, die er sich für eine solche Situation aufbewahrt hatte, auf die feindlichen Einheiten warf. Kira und Darren eröffneten das Feuer, woraufhin die Spezialeinheiten schnell die Deckung wechseln wollten, nur um mitten in den von Barrex geworfenen Brandsatz zu geraten, der nun in hellem Licht zündete. Zwei der unheimlichen Glanzhäute waren innerhalb von Sekunden tot, einige Andere verletzt. Aber vor allem waren die gegnerischen Schützen von den plötzlichen Flammen abgelenkt und geblendet. Das nutzte Barrex aus, um zu Al zu fliegen, der mitten in der Luft schwebte. Der Pilot sammelte den Verletzten mithilfe von Charisa, die den bewusstlosen Gravianer dem Fahrzeug entgegen schweben ließ, ein und verschloss die Glaskuppel des Wavers, danach verschwand der Nyoma sofort hinter dem schwarzen Wolkenkratzer, sodass die Beamten, die nun langsam ihre Sicht wiedererlangten, nicht mehr auf ihn schießen konnten. Kira nahm sich im Fahrzeug umgehend der Hand- und Fußschellen Al´s an und zerriss sie mithilfe ihres Kekkis. Die Ketten zerrissen wie Gummibänder. Das musste eine unglaubliche Kraft erfordern, mehr, als zwei ausgewachsene Gravianer zusammen hätten aufbringen können. Aber die Meditazia schien trotzdem nicht die geringsten Probleme mit der Zerstörung der Ketten aus Siliziumcarbid zu haben. Barrex schloss die Luke des Hovercars nun umgehend; es war noch nicht vorbei.
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