Zu Hause änderte sich sonst leider nicht viel. Für mein Leben gerne hätte ich gerade jetzt eine Musikschule besucht, Klavier- oder Geigenunterricht genommen, vielleicht sogar Konzertgitarre gespielt, aber weit gefehlt. Meine Eltern kauften mir stattdessen ein Schifferklavier. Die beiden waren sich einig, dass ein Akkordeon das richtige Instrument für mich war. Ich bekam Privatunterricht und musste ab sofort täglich auf der ungeliebten Quetsche üben. Dies tat ich sehr widerwillig, doch was sollte ich schon dagegen unter- nehmen, sämtliche Proteste nutzten nichts, denn Widerworte wurden nicht geduldet.
Von dieser Zeit an wurde ich allen Bekannten und Verwandten als musikalisches Talent vorgeführt. Ich fühlte mich wie ein Zirkuspferd und musste bei den verschiedensten Familienanlässen etwas auf diesem schrecklichen Instrument vorspielen. Meist saß ich total verschüchtert auf einem Stuhl in der Mitte des Wohnzimmers und spielte mühselig einige Seemannslieder aus einem Notenbuch. Ich fand mich total albern, und wenn ich aus Versehen mal nicht den richtigen Ton oder die richtige Taste traf oder einfach nur kurz aus dem Takt kam, straften mich vorwurfsvolle Blicke meiner Mutter. Des Öfteren wurde ich sogar am Ende einer Feier, wenn die Gäste gegangen waren, als Dankeschön auch noch beschimpft.
Ein weiteres und viel schlimmeres Erlebnis hatte ich mit 14 Jahren anlässlich meiner Konfirmation. Neben den üblichen Mädchengeschenken, wie Stofftaschentücher, Tisch- und Bettwäsche sowie Anlegebesteck und Sammeltassen bekam ich von Familie Eilers, einem befreundeten Ehepaar meiner Eltern, durchsichtige Nachtwäsche geschenkt. Dieses sogenannte Babydoll wurde in Deutschland durch einen amerikanischen Kinofilm bekannt und war zu der damaligen Zeit hochaktuell. Eigentlich eine ganz nette Geschenkidee dachte ich so bei mir, mal etwas anderes als die langweiligen Nachthemden, die ich sonst immer trug.
Der Nachmittag bei Kaffee und Kuchen verlief recht fröhlich bis der Abend anbrach und mein Vater zu mir sagte:
"Sabine, führe uns doch dein Babydoll mal vor. Familie Eilers will doch sicherlich auch sehen, ob es dir passt."
Meine gute Laune war mit einem Schlag dahin, ich war regelrecht schockiert und traute meinen Ohren nicht.
"Nun hab dich doch nicht so, da ist doch nichts dabei."
Mein Vater und Herr Eilers redeten un- aufhörlich auf mich ein. Die anwesenden Frauen hatten gegen diese seltsame Modenschau ebenfalls keine Einwände. Wiederwillig musste ich mich einmal mehr den Anweisungen meiner Eltern beugen. Mit hochrotem Kopf und kindlich unbeholfen stolperte ich in dem durchsichtigen neuen Babydoll durchs Wohnzimmer. Diese zur Schaustellung vor fremden Leuten war mir unglaublich peinlich, aber einmal mehr wurde keine Rücksicht auf meine Bedürfnisse genommen, und mein verletztes Schamgefühl interessierte niemanden.
Ich verbrachte den Rest des Abends in meinem Zimmer, vergrub mein Gesicht unter einem Kopfkissen und hörte die Gäste noch lange feiern. Was Tage später aus dieser skurrilen Modenschau noch entstehen sollte, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehen.
Die darauf folgende Woche begann ohne Vorkomm- nisse, und der Tag in der Schule verflog wie nichts. Schneller als sonst brach bereits die Dunkelheit herein und der Unterrichtsschluss in der Kunsthochschule, die ich mittlerweile besuchen durfte, wurde durch die schrille Schulklingel eingeläutet. Ich schlenderte über den Schulhof auf die Straße. Direkt am hohen Eisenportal des Ausgangs sah ich einen Mann unter der beleuchteten Laterne auf der anderen Straßenseite, der mit seinen Armen wild artikulierend zu mir herüber winkte. Schemenhaft erkannte ich Herrn Eilers, den Bekannten meiner Eltern, der dort freudestrahlend unter der Straßenbeleuchtung anscheinend auf mich zu warten schien.
"So ein Zufall Sabine, komm steig ein, ich fahre dich nach Hause, wenn ich schon mal hier bin."
Mit diesen Worten öffnete er ganz gentlemanlike die Fahrzeugtür, und ich stieg bedenkenlos in seinen Wagen ein. Ich war sehr dankbar, dass er mich mitnehmen wollte, denn ansonsten hätte ich noch 20 Minuten auf den Bus warten müssen. Was sollte schließlich schon geschehen, er war doch ein Freund meiner Eltern und hatte selbst eine Familie mit zwei Kindern. So naiv war meine Denkweise.
Zu spät bemerkte ich seine widerliche Alkoholfahne. Er fuhr los, und ich hatte keine Chance mehr auszusteigen. Als wir nicht den direkten Weg nach Hause fuhren, ahnte ich bereits, welches Unheil nun auf mich zukommen sollte. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf, ich wurde panisch auf dem Beifahrer- sitz und musste mich zur Ruhe zwingen. Innerlich zerplatzte ich förmlich vor Nervosität.
"Bitte fahr mich nach Hause", bettelte ich ihn an, bekam aber keine Antwort. Er fuhr einfach weiter in den nahegelegenen Park, bog dort rechts ab und stoppte sein Auto in einer dunkler Sackgasse unter einem Baum. Lauter, fast schreiend, wiederholte ich meine Forderung mit zittriger Stimme:
"Bitte fahr mich nach Hause, meine Eltern machen sich sonst Sorgen, wenn ich zu spät komme."
Wieder erhielt ich keine Antwort. Stattdessen verriegelte er die Autotür, riss mich an sich und probierte, mich auf den Mund zu küssen. Nur durch schnelles und geschicktes Wegdrehen meines Kopfes konnte ich mich dieser ekligen Attacke entziehen. Seine feuchten Hände rutschten an meinem Körper immer tiefer. Ich spürte seinen unbändigen Willen und die ungeheure Kraft, die er bei seinem miesen Vorhaben entwickelte. Was hatte ich schon als junges Mädchen gegen die Brachialgewalt eines erwachsenen Mannes entgegenzusetzen?
Er hielt meine Arme fest und schaffte es, mein Kleid nach oben zu schieben. Dabei keuchte er wie ein Tier. Die Scheiben des Fahrzeugs beschlugen in wenigen Minuten. Ich schrie um mein Leben und wehrte mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln gegen seine gierigen Hände. Diesen stinkenden Geruch seines Atems werde ich nie vergessen. Beinahe hatte er es geschafft, mich zu vergewaltigen, aber im letzten Moment bogen zwei Spaziergänger um die Ecke, und er ließ von mir ab. Ich hatte Angst wie nie zuvor im Leben und stand völlig unter Schock. Selbst schreien konnte ich nicht mehr. Irgendwie muss der Kerl durch die kurze Unterbrechung zur Besinnung gekommen sein. Er startete seinen Wagen und fuhr mich schnurstracks nach Hause, wo er mich ohne ein Wort vor der Haustür absetzte, um anschließend mit Vollgas in der Dunkelheit zu verschwinden.
Ganz vorsichtig schloss ich die Haustür auf und wollte mich in mein Zimmer schleichen. Vater lag schon im Bett, hatte aber dennoch mitbekommen, dass ich eine volle Stunde zu spät nach Hause kam.
"Wo warst du so lange? Wo hast du dich wieder rumgetrieben?" seine jähzornige Stimme schallte durch das ganze Haus. Dann kam auch noch meine Mutter aus der Küche.
"Wo kommst du denn jetzt erst her, dein Vater macht mich schon wieder verrückt und gibt mir die Schuld, dass du so lange weg warst. Ich halte das nicht mehr aus."
Erst jetzt, in diesem Augenblick, fiel ihr mein desolater Zustand auf.
"Kind wie siehst du denn aus? Deine Haare sind ja völlig zerzaust und deine Sachen total verrutscht. Du zitterst ja am ganzen Leib. Was ist geschehen?"
Verstört und heulend erzählte ich ihr, was mir gerade mit Herrn Eilers geschehen war. Mutter zeigte nur geringen Anteil an meiner Geschichte, anders als von mir erwartet antwortete sie nur:
"Erzähl bloß Vater nichts davon, der bringt den Eilers sonst um."
Das war ihre einzige Reaktion und aus diesem Grund durfte ich diesen Kerl auch nicht anzeigen. Schließlich war ja eigentlich nichts vorgefallen, wie sie mir einreden wollte. Sie hatte nur Angst um diesen Vergewaltiger. Wieso auch immer. Sie ließ mich verwirrt allein in der Küche stehen und ging seelenruhig ins Bett als sei nichts geschehen.
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