Ich bitte meine Frau um Verständnis. Ich habe einfach nicht die Kraft, alles, was so an Arbeiten und Reparaturen im Haus und Garten anfällt, zu erledigen. Doch trifft dies bei ihr auf taube Ohren. Sie meint natürlich, mein Zustand hänge mit unseren – naja, ich nenne es mal - spannungsgeladenen, zwischenmenschlichen Problemen – zusammen. Es führt ständig zu Streitereien, die dann ewig lange andauern und natürlich zur Lösung meiner Probleme klar kontraproduktiv ist. Mir tun Celina und Fabienne so leid. Ich will sie von den lautstarken Auseinandersetzungen fernhalten, möchte meine beiden Schätze beschützen, fühl mich aber selber so schutzlos.
Ich gerate in einen Sog, der mich in die Steinmühlen zieht. Keiner will mir helfen, die ganze Welt scheint so ungerecht zu mir zu sein. Jeden Moment kann es losgehen und ich werde zermalmt. Meine Seele schreit. Sie schreit so laut sie kann, doch der Schutzpanzer, dick ausgepolstert mit Frustration, Scham und vermutetem Unverständnis bildet einen Schalldämpfer, der nicht mal ein leisestes Wimmern nach Außen durchdringen lässt. Freunden, Arbeitskollegen, Verwandten, der ganzen Welt will ich mich anvertrauen. Alle sollen es wissen wie hundsbeschissen ich mich fühle!! Wie ich leide, wie bemitleidenswert und welch armes Würstchen ich doch bin. Warum fragt mich niemand wie es mir geht? Sieht denn keiner, dass ich von den Hyänen der Verzweiflung und Bedrückung aufgefressen werde? Ich sehne mich danach, mein Herz auszuschütten, gleichzeitig blocke ich ab, hoffe, dass mich ja keiner anspricht! Wo, wann und wie kann ich nur Hilfe kriegen? „Na, lieber Andi, wie geht es dir denn? Ich habe da die Lösung für all deine Sorgen parat!“ So genau ich auch blicke, ich entdecke ihn nicht, den Silberstreif am Horizont! Ich hoffe so sehr, ein Ventil zu finden, hab aber im selben Moment größte Angst davor mich als Versager, Sünder, Schlechtmensch, Schwächling zu „outen“. Ich befürchte und weiß, diese Suppe muss ich ganz alleine auslöffeln…
Überall sehe ich nur mehr unerledigte Arbeiten. Der Rasen muss schon wieder gemäht werden, die Holzterrasse scheint sich in ihre Einzelteile aufzulösen, der Keller sollte mal ausgemistet und aufgeräumt werden, die Zimmerdecke hat leichte Haarrisse bekommen, die täglich größer und länger erscheinen…
In der Arbeit habe ich das Gefühl, als ob alles den Bach runter laufen würde. Ein Durcheinander, Bearbeitungsrückstände, Sauhaufen… Einmal frage ich Barbara, eine meiner liebsten Arbeitskolleginnen, ob sie nicht auch finde, dass sich in letzter Zeit hier herinnen alles zum Schlechteren entwickle? „Meinst du? Also ich denk, dass derzeit alles ganz rund läuft!“ Sehe ich das alles zu eng, oder sind die alle blind?! Oder ist nur mein eigener Bereich aus den Rudern gelaufen? Plötzlich kommt mir die Arbeit nur mehr als eine riesige Belastung vor. Und Dinge, die früher ganz leicht von der Hand gingen, verstehe ich nicht mehr und bring sie nicht mehr auf die Reihe. Was ist nur los? Gesetzliche Änderungen, neue Arbeitsanweisungen, andere Arbeitsabläufe im Büro, das alles scheint an mir vorbei gegangen zu sein. Es wäre, als sei ich das letzte Jahr gar nicht in meinem Job gewesen… Ich versteh oft nur mehr Bahnhof…! Hatten mich meist die Kollegen um Rat gebeten, muss nun ich immer häufiger nachfragen. Und das, obwohl ich seit ein paar Wochen als Gruppenleiter-Stellvertreter bestimmt wurde. Ich schäme mich! Mein ganzes Leben scheint in Unordnung, aus der Balance geraten zu sein.
Bin ich eh schon angeschlagen wie ein in den Seilen hängender Boxer, kommt fast täglich ein neuer Treffer in Form einer Hiobsbotschaft hinzu. Papa muss sich vermutlich in den nächsten Wochen einer Knie-OP unterziehen, meine Mutter hat einen leichten Gehörsturz erlitten. Auch meiner Schwester geht’s nicht so gut. Meine Schwiegereltern haben auch immer wieder gesundheitliche Probleme. Und die Kinder kränkeln… In der Arbeit gibt es weitere Personalrochaden. Ich darf mir jetzt nicht auch noch Schwächen leisten! Du musst stark bleiben, du musst gesund bleiben, du musst funktionieren, du musst, musst, musst, MUSST!!!
Ende Mai - Heute ist das Erstkommunionsfest von Celina. Sie freut sich schon seit Wochen darauf. Ich bin stolz auf meine Prinzessin in ihrem weißen Kleidchen. Ach meine liebe, süße Tochter, sie strahlt vor Glück, so unschuldig, zart und schön. Wieder steigt die Scham in mir hoch, das schlechte Gewissen bringt mich beinahe zum Kotzen. Ich will ihr auf keinen Fall das Fest vermiesen. Doch ich habe Angst vor der Menschenmenge in der Kirche, fühle mich beobachtet. Am liebsten würde ich alleine sein und nur noch schlafen. Auch das folgende Mittagessen im Gasthaus und der Ausflug in einen kleinen Vergnügungspark kosten mir so viel Kraft. Ich bin in meiner eigenen Gedankenwelt verstrickt, nehme die Umwelt nur mehr wage wahr. Ein Kampf von Minute zu Minute, denke, dass ich jeden Moment zusammensacken könnte.
Erstes Juniwochenende – Mit einer befreundeten Familie fahren wir auf eine Selbstversorgerhütte ins Ennstal. Obwohl es hier sehr schön ist und ich mir einrede, dass mir die frische Bergluft guttun würde, schaffe ich es nicht, das Hamsterrad auch nur für einen kurzen Moment zu verlassen. Ich habe ein schlechtes Gewissen meiner Familie und meinen Bekannten gegenüber, schäme mich für meine miese Laune und meine Lustlosigkeit… doch so sehr ich mich auch anstrenge, ich bin machtlos dagegen! Warum kann nicht einmal etwas nur schön, oder zumindest normal sein? Warum müssen meine Gedanken gleich immer alles kaputt machen?! Na super, jetzt haben wir auch noch eine Autopanne! Für mich eine Riesenkatastrophe – ich will schreien, geht denn alles schief! Diese verdammte Scheiße! Der herbei gerufene Pannendienst kann das Auto nach einer Ewigkeit gerade noch sporadisch reparieren, damit wir noch nach Hause kommen. Ich soll aber damit baldigst in die Werkstatt – Kostenpunkt rund zweitausend Kröten!
Ich sitze in der Arbeit und kann mich absolut nicht konzentrieren. Letzte Nacht war wieder furchtbar. Schon um neun Uhr abends habe ich die vom Arzt verschriebene Schlaftablette eingenommen und mich dann ins Bett verkrochen und gehofft, dass ich mich schnell ins Land der Träume flüchten kann, um die zahlreichen Sorgen und Probleme in der Realität zurück lassen zu können. Meine Hoffnung wurde wieder einmal nicht erfüllt! Die Nacht ist ausgefüllt vom ständigen Umherwälzen, Schweißattacken, und zigmaligem Aufsuchen der Toilette. Eine imaginäre Klopapierrolle - von Ängsten und schrecklichen Vorstellungen verdreckt und zum Kotzen stinkend - umwickelt meinen Kopf. Wieder und wieder die gleichen Gedanken. Ich merke, dass es draußen schon wieder langsam zu dämmern beginnt und durch die Jalousien dringt schwaches Licht, welches sich wie eine Smogwolke auf mich niederlässt. Ich blicke auf den Wecker – halb 5 und ich habe noch immer nichts geschlafen. Wie soll ich nur den nächsten Arbeitstag überstehen? Zwanghaft versuche ich meine Gedanken auf etwas Schönes zu richten. Bitte, bitte, bitte… wenigstens ein paar Minuten! Schäfchen zählen habe ich schon probiert – hilft nichts! Fußball! Wie war noch die Aufstellung meines Lieblingsvereins beim letzten Champions-League-Spiel? Im Tor stand xxx, rechter Verteidiger xxx, linker Verteidi… verdammt schon wieder verwickle ich mich im feuchten dampfenden Klopapier, das, aufgeweicht in einen Drecksbrei aus Furcht und Verzweiflung, schon meinen ganzen Körper überschüttet. Der Wecker klingelt…. Ich habe wieder keine einzige Minute geschlafen!!
Leute kommen zu mir in der Arbeit, wie ferngesteuert gebe ich Auskunft und höre meine eigene und die Stimmen der Versicherten nur mehr monoton und dumpf. So kann das nicht mehr weitergehen. Ich halte Beratungsgespräche zu heiklen Themen und habe Sachen zu erledigen und prüfen, bei denen es teilweise um eine Menge Geld geht. Ich muss etwas unternehmen – das Risiko ist einfach zu groß, dass ich Fehler mache, die meinen Job und somit auch meine Existenz, und vor allem auch die meiner Familie, gefährden könnten. Vor einigen Wochen hatte ich noch große Hoffnungen in die Antidepressiva gesetzt, die mir der Arzt damals kurz nach Ostern verschrieben hatte. Zwischenzeitlich habe ich auch meinen Hausarzt kontaktiert – er hat mich an eine Einrichtung vermittelt, welche kostenlos Gesprächstherapien anbietet. Die im Abstand von zwei Wochen besuchten Therapien waren immer nur kurze Verschnaufpausen, grüne Oasen in der großen, unüberschaubaren drückend weiten Wüste der Depression. Meist erscheinen sie mir wie eine Fata Morgana – die nach dem Gespräch mit dem Psychotherapeuten wie eine Seifenblase vor meinen Augen zerplatzt. Außerdem habe ich das Gefühl, als reden der Therapeut und ich aneinander vorbei. Er hat ja keine Ahnung! Mein Zustand hat sich kein bisschen verbessert, ganz im Gegenteil.
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