1 ...6 7 8 10 11 12 ...24 Liliana schloss die Augen und versuchte ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen während sie ihren Kopf gegen das raue Kiefernholz lehnte.
„Liliana...? Alles okay?“ Thierrys tiefe, fremdartige Stimme riss sie zurück aus der Vergangenheit. Sie erschrak so heftig, dass sie leise aufschrie. Sie hatte ihn völlig vergessen.
„Verzeih, ich wollte dich nicht...“
Sie schüttelte ungehalten den Kopf. „Schon gut“, murmelte sie, sank auf die Knie und begann in den Tiefen des Schrankes nach den Schuhen zu suchen.
Überdeutlich spürte sie seine Anwesenheit. War sich bewusst, dass er die hektischen Bewegungen, den unruhigen Atem und ihre Unsicherheit wahr nahm. Doch er war taktvoll genug zu schweigen.
Nach einer Ewigkeit, wie Liliana schien, hielt sie schließlich die Schuhe in den Händen.
Noch immer zittrig erhob sie sich, durchschritt den Raum und reichte sie ihm.
Thierry quittierte die Schuhe mit einem leicht schiefen Lächeln bevor er sich bückte und hinein schlüpfte. Da es sich um offene Badeschuhe handelte, war gut sichtbar, dass seine Zehen, ebenso wie die Ferse deutlich über dem Sohlenrand standen.
Liliana empfand die Situation in ihrer Schlafkammer plötzlich als ungewöhnlich intim. Die enge des Raumes machte ihr seine Größe und das fremdartige umso deutlicher bewusst. Sie trat einen Schritt zurück. Mit einem schüchternen Lächeln begegnete sie schließlich Thierrys Blick:
„Tut mir Leid, etwas anderes habe ich leider nicht. Vermutlich schulde ich dir nun ein paar Schuhe.“
Er erwiderte ihr Lächeln und winkte ab: „Es wird schon gehen. Immer noch besser als barfuß laufen zu müssen und so die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.“
Und das war etwas, schien Liliana, was er absolut vermeiden wollte.
Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab, trat zurück in den Wohnraum und sah sich noch einmal um.
Schließlich nickte er ihr kurz zu: „Also dann Liliana, ich hoffe wir sehen uns heute Abend.“
Er wartete ihre Antwort nicht ab. Im nächsten Moment schloss sich die Tür hinter ihm.
*
Sein Weg führte ihn über die sichere Verlassenheit des Strandabschnittes, der ihn direkt nach La Cotiniere bringen würde.
Der Sand unter seinen kaum beschuhten Füßen war noch immer feucht vom Regen der vergangenen Nacht. Wind zerzauste sein Haar, zerrte an der Kleidung und ließ ihn erschauern. Deutlich war der Atem des nahenden Herbstes zu spüren.
Thierry vergrub die Hände tief in die wärmenden Taschen seiner geborgten Jeans und hob den Blick zum Himmel, an dem in schnellen Zügen regenschwere, graue Wolkenformationen dahin trieben.
Grau wie seine Stimmung, die düster auf seiner Seele lastete.
Er war zu Hause. Nach all den Jahren der Sehnsucht, die ihn innerlich langsam auszuhöhlen drohte und nichts als leblose, tote Materie zurück ließ, war er nun an jenem Ort, an den er sich in den endlosen Stunden schlaflos verbrachter Nächte hin geträumt hatte.
In seinen Träumen war Oleron immer noch die Zuflucht und der sichere Hafen seiner Kindertage.
Als er nun die einsame Dünenlandschaft durchschritt, spürte er die Veränderung und Narben, welche die Jahre ihm und seinem Land zugefügt hatten, umso deutlicher.
Der Wind trug den Geruch von Salz und Seetang zu ihm herüber. Er blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und füllte seine Lungen mit dieser von vertrauten Geschmäckern durchsetzen Luft. Über ihm zogen die Möwen ihre Kreise. Ihr Schrei vermischte sich mit dem Donnern der Brandung, die tosend, noch aufgewühlt von dem Unwetter der vergangen Nacht, an den Strand rollte.
Für Sekunden gelang es ihm, die Anspannung in seinem Inneren auszublenden und nur das Geschehen des Augenblicks wahrzunehmen. Die Naturgewalten in ihrer Urkraft waren es, die ihn schließlich hierher zurückgeführt hatten.
Die Aufgaben, die nun vor ihm lagen, insbesondere, die nächsten Stunden zu bewältigen, würden ihm alles abverlangen, dessen war er gewiss. Und er spürte alles andere als Sicherheit, ob er sich dem wirklich gewachsen fühlte. Je mehr er sich La Cotiniere und damit auch der „Avenue du General Leclerc“ näherte, desto schwerer wurde sein Gang.
Er spürte selbst, wie die vor ihm liegende Last seine sonst so aufrechte Haltung nieder drückte. Den Kopf geneigt und die Schultern gesenkt, stemmte er sich gegen den Wind.
Der letzte Abschnitt seines Weges, kurz vor dem Ort, zwang ihn dazu, die befestigte Straße zu nehmen, da der sandige Abschnitt kurz vor dem Fischerdorf endete.
Thierry bete im Stillen, dass er unbehelligt sein Haus erreichte. Er musste La Cotinere durchqueren um die Avenue zu erreichen. Sein Elternhaus war das letzte, welches am Ortsausgang der Straße stand. Gott gebe, dass ihm eine Galgenfrist gewährt blieb, bis die Einwohner erfuhren, dass er zurückgekehrt war.
Die Aussichten dafür standen recht gut, wenn er mit den Blicken die fast menschenleeren Straßen absuchte. Das Wetter hielt die meisten davon ab sich draußen auf dem Boulevard aufzuhalten, auf dem im Sommer eine bunte Schar Touristen drängte.
Doch die Saison war längst vorbei. Die meisten Geschäfte hatten schon auf Notbetrieb umgeschaltet. Manche waren auch schon winterfest verschlossen, die Fensterläden heruntergefahren und die Eisengitter vor die Türen geschoben.
Früher hatte er es geliebt, wenn nach all dem Trubel endlich wieder Ruhe einkehrte in das Inselleben und die Einheimischen sich auf die nötigsten Tätigkeiten beschränken konnten. Die Menschen hatten dann Zeit füreinander. An den langen Winterabenden saß man beisammen. Die Inselältesten brauchten nicht zweimal darum gebeten zu werden von alten Zeiten zu berichten. Thierry hatte es geliebt in den Hafenschänken zu sitzen, bei einem Glas Bier an den wärmeren Tagen- oder einem Cognac, dann, wenn die Winterstürme eisig um die Häuser fegten und man die Glut des prasselnden Feuers im Rücken und die wärmende Wirkung des Alkohols im Inneren, genießen konnte.
Als die letzte Wegbiegung in Sicht kam, verlangsamten sich unweigerlich seine Schritte. Das Herz schlug ihm so heftig in der Kehle, dass er glaubte, es müsse im nächsten Moment herausspringen, und seine Hände waren nun, trotz der Kälte, in den Hosentaschen schweißfeucht. Noch gut zweihundert Meter, dann stand er vor dem kunstvoll verzierten schmiedeeisernen Tor, welches Fremden den Zutritt zu dem Privatgrundstück versagte. Eine ca. ein Meter sechzig hohe Mauer umschloss schützend das Haus mit seinem Garten.
Es war kein stolzes Anwesen.
In seiner Schlichtheit strahlte es eher Bescheidenheit aus und dennoch war es all die Jahre, die er hier gelebt hatte, seine Festung, seine Burg gewesen. Ein sicherer Hafen, in dem er, nach der Mühsal des täglichen Lebens zur Ruhe kommen konnte.
Sein Vater hatte vor gut vierzig Jahren dieses Haus erbaut und dafür den Insel üblichen Sandstein verwendet. Jahre später ließ Thierry sein Heim mit Natursteinen, wie sie auf Oleron ebenfalls sehr oft verwendet wurden, verklinkern. Er hatte sein Heim zumindest äußerlich damit aufgewertet.
Er drückte den eisernen Griff herunter und betrat das Grundstück.
Der Garten war schon für den Winter hergerichtet worden. Die wenigen Bäume und Sträucher beschnitten. Im Rasen, der den Steinweg zum Haus rechts und links säumte, waren noch die deutlichen Spuren des Sommers sichtbar. Braun schattierte Brandnarben zogen sich durch das wenige Grün.
Doch Thierry schenkte dem nur wenig Beachtung. Seine Aufmerksamkeit galt dem Haus mit den verschlossenen, azurblauen Fensterläden und der ebenfalls in blau gehaltenen Haustür.
Er war sicher, dass alles einen neuen Anstrich bekommen hatte. Nach neun Jahren und den Wettern, die dieses Heim jedes Jahr standhalten musste, hätte das Holz nicht mehr so gesättigt, so gepflegt aussehen sollen.
Читать дальше