Sie füllte zwei Becher und stellte sie auf den Tisch. Dann öffnete sie eine Tür, welche in die kleine Vorratskammer führte, die an die Küchenzeile anschloss, und suchte nach etwas Essbarem. Sie fand schließlich noch eine Packung eingeschweißte Croissants und ein Stück Butter.
„Tut mir Leid, mehr kann ich leider nicht anbieten. Meine Vorräte sind aufgebraucht. Ich hatte nicht vor...“ Sie biss sich auf die Lippen und schluckte die letzten Worte hinunter. Es war auch gar nicht nötig diesen Satz zu Ende zu führen. Ein Blick in die Augen des Mannes und sie erkannte, dass er unlängst wusste, was sie hatte sagen wollen.
Er nahm ihr die Croissants ab und legte sie auf den Tisch, dann suchte er in Schränken und Schubladen nach Teller und Messer.
Als er ihr schließlich gegenüber saß, stellte er behutsam die Frage, die ihm vermutlich schon die ganze Zeit unter den Nägeln brannte: „Wie geht es dir heute Morgen?“
Sie wollte sagen `'Gut, kein Grund zur Sorge. Ich werde keine Dummheiten mehr begehen.'
Doch sie wusste, dass sie eine verdammt schlechte Lügnerin war. All ihr Denken und Fühlen stand deutlich sichtbar in ihren Augen. Eine Schwäche, die sie auch nicht mit dem folgenden Lächeln überspielen konnte.
„Besser, danke.“ Sie ahnte, dass er sie durchschaute. Sein prüfender Blick zeichnete eins zu eins ihre Mimik nach.
„Du musst nicht länger den Babysitter für mich spielen... ich... ich werde nicht... “
„Natürlich wirst du. Das Thema ist mit dem missglückten Versuch gestern Abend noch nicht abgeschlossen für dich. Ich kann diese tiefe Entschlossenheit in dir fast greifen, so deutlich spüre ich sie.“ Er atmete tief und fuhr sich mit beiden Händen durch das braune Haar. Eine Geste der Ratlosigkeit, wie Liliana erkannte.
„Ich weiß nicht, was oder wer dich dazu bewegt einen solchen Schritt zu wagen, aber glaube mir, das Leben ist viel zu kostbar. Vielleicht scheint dir deine Situation zum momentanen Zeitpunkt ausweglos, aber schon morgen können sich ganz neue Möglichkeiten erschließen. Die Sonne geht immer wieder auf, wenn die Nacht auch noch so undurchdringlich scheint.
Auch wenn du dich einsam fühlst, es gibt ganz sicher Menschen, die dich vermissen würden. Die du durch dein Handeln verletzen würdest, weil deine Tat verdammt egoistisch ist.“
Liliana wich seinem Blick aus.
Sie empfand Wut über seine anmaßenden Worte, gleichzeitig quälten sie aber auch tiefe Schuldgefühle. Er sprach genau jene Dinge an, die sie hatten hadern lassen.
Würde Elise sie eines Tages hassen, weil sie ihr nicht die Möglichkeit ließ, frei zu entscheiden, ob sie mit ihrer Mutter leben wollte, auch wenn dieses bedeutete, dass es nur zeitweise möglich war? Doch zum jetzigen Zeitpunkt konnten weder sie noch Elise darüber entscheiden, bei wem das Kind leben sollte. Darüber entschieden einzig und allein Anwälte und Richter, die behaupteten, zu wissen wo das Wohlergehen ihres Kindes gesichert war. Und das war derzeit ganz sicher nicht bei Liliana.
Sie schüttelte den Kopf, einen Gefühlsausbruch mühsam beherrschend.
„Du kannst dir nicht anmaßen, über mich zu urteilen. Was weißt du schon von mir oder meinen Beweggründen, geschweige denn von meinem Leben und den Menschen die daran Teil haben? Ich habe dich nicht gebeten mich zu retten. Du mischt dich unaufgefordert in Dinge ein, die dich nichts angehen und von denen du keine Ahnung hast.“
Ihre Stimme bebte vor Zorn, so scharf waren ihre Worte.
Während sie gesprochen hatte, hielt sie den Blick eisern auf die Kaffeetasse in ihren Händen gesenkt, nicht gewillt dem Wissen in diesen blauen Augen zu begegnen.
Doch er schwieg beharrlich nach ihrem Ausbruch und so war sie schließlich gezwungen den Kopf zu heben.
Er saß, das unrasierte Kinn auf seine ineinander verschränkten Hände gestützt, still da und betrachtete sie mit einer Zufriedenheit, die sie zu spät erkennen ließ, dass er ihr eine Falle gestellt hatte.
„Ich wusste es.“ Leiser Triumph klang aus seinen Worten. „Ich wusste, dass trotz des Ausmaßes deiner Verzweiflung noch eine gehörige Portion Leben in dir steckt. Jemand, der sich so beharrlich zu verteidigen versteht, ist dem Leben viel näher als dem Tod.“
Liliana schloss die Augen und atmete hörbar ein.
„Also gut, du hast mich auf die Probe gestellt und ich bin dir auf den Leim gegangen. Und jetzt? Was bedeutet das nun, deiner Meinung nach, Herr Psychologe.“
Er lächelte verschmitzt, mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und ließ sich zufrieden in seinem Stuhl zurück sinken.
„Ich würde sagen, eins zu null für mich.“
Nervös zog sie eine Augenbraue in die Höhe, schwieg jedoch.
„Du bist mir nun etwas schuldig. Ich schlage dir einen Deal vor.“
Hier saß ein Mann an ihrem Küchentisch, der ihr völlig fremd war. Aus dem Nichts war er aufgetaucht. Sicher, er hatte ihr das Leben gerettet, wenn das auch nicht unbedingt ihrem Willen entsprochen hatte, so sprach es doch für den Fremden. Aber wer immer er war, was er darstellte oder vor ihr verbarg, konnte sie nicht ahnen.
Trotz ihrer Todessehnsucht am vergangenen Abend beschlich sie nun ein leises Unbehagen.
Er konnte ein strahlender Held sein, ebenso wie ein gesuchter Verbrecher. Was forderte dieser Mann nun von ihr ein? Eine eiskalte Gänsehaut kroch ihren Körper hinauf und ließ sie frösteln.
Thierry schien ihr Unbehagen zu bemerken. Er beugte sich vor und sagte sanft:
„Ich will dich nicht ängstigen Liliana. Alles, was ich möchte, ist sicher gehen, dass du dich zu keinen weiteren Dummheiten hinreißen lässt.“
Er deutet mit einer Handbewegung auf die Uhr an der Wand hinter ihr.
„Ich kann nicht länger bleiben um mich selbst davon zu überzeugen. In einer Stunde habe ich einen Termin... “ Er unterbrach sich kurz. Irgendetwas schien ihn für Sekunden aus dem Konzept zu bringen. Sie konnte ein Flackern in seinem Blick sehen, eine gewisse Unruhe, die nichts mit der derzeitigen Situation zu tun hatte, das ahnte sie instinktiv.
„Also, der Deal besteht darin, dass du dir so gut wie möglich den Tag vertreibst ohne über dein Ansinnen vom gestrigen Abend nachzudenken. Dafür bin ich in den frühen Abendstunden zurück um nach dir zu sehen.“
Die Sanftheit in seiner Stimme, so als spräche er zu einem ungezogenen Kind, und der Vorschlag an sich ließen Liliana schließlich aus der Haut fahren:
„Ich bin verdammt noch mal keine sechs Jahre alt und ganz sicher brauche ich keinen Aufpasser. Die letzten Jahre habe ich mein Leben auch ganz gut allein gemeistert...“
„Daran zweifelt niemand. Doch es ist ziemlich eindeutig, dass du durchaus jemanden gebrauchen kannst, der dir die Sonnenseiten des Lebens zeigt. Liliana, lass es zu, dass dir jemand über die ersten Hürden hilft, bis du wieder sicheren Stand hast.“
„Und dieser jemand willst du sein?“
Sie bemerkte sein Zögern. Er schluckte, so dass sein Kehlkopf sich auffällig bewegte, bevor er weiter sprach: „Ich bin vielleicht wirklich nicht die geeignete Person dafür...“ Liliana hatte den Eindruck, dass diese Worte eigentlich nicht für ihre Ohren bestimmt waren.
„Aber fürs erste, bis wir jemanden gefunden haben, der dieser Aufgabe eher entspricht, könntest du vielleicht mit mir vorlieb nehmen?“
Liliana blieb ihm die Antwort schuldig, indem sie schwieg.
Thierry schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. Mit den Händen strich er sich durch das etwas zu lange Haar, welches im Nacken auf den Hemdkragen fiel.
„Nun gut, ich sollte dann wohl aufbrechen.“
Sie erhob sich ebenfalls und deutet auf seine nackten Füße.
„Du kannst unmöglich ohne Schuhe gehen. Warte, ich muss irgendwo noch ein paar Badeschuhe von meinem verstorbenen Mann haben.“
Sie trat in das angrenzende Schlafzimmer und öffnete Mathieus Kleiderschrank. Augenblicklich schlug ihr der vertraute Geruch entgegen und sie klammerte sich Halt suchend an die Schranktür. Wann würde es endlich aufhören? Auch nach fast vier Jahren waren all die Erinnerungen und der damit verbundene Schmerz noch so frisch, als ob es gestern gewesen sei.
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