1 ...8 9 10 12 13 14 ...24 Nichts erinnerte mehr an die Begebenheiten jener Nacht vor neun Jahren. Und dennoch hatte er das Gefühl mitten im Geschehen zu sein.
„Thierry!“ Pascal ergriff seinen Arm und schüttelte ihn leicht, brachte ihn durch diese Berührung zurück in die Gegenwart.
Er erhob sich mit zitternden Gliedern und kam schließlich, noch immer nicht ganz sicher auf den Beinen, vor seinem Bruder zum Stehen.
„Mein Gott, du bist weiß wie die Wand. Na komm, ich werde dir erst mal etwas zur Stärkung geben.“
Schweigend und willenlos ließ Thierry es zu, dass Pascal ihn aus dem engen, dunklen Flur, der die Schleusen der Vergangenheit geöffnet und ihn mit sich gerissen hatte, in das helle, freundliche Wohnzimmer führte. In eine andere Welt, ein völlig anderes Leben, wie ihm schien.
Entschlossen drückte Pascal den zitternden Mann in den Ledersessel, welcher direkt am offenen Kamin stand. Dann brachte er mit wenigen Handgriffen ein Feuer in Gang, dessen Wärme im Nu die untere Wohnebene erfüllte.
Schließlich reichte der Bruder ihm, noch immer schweigend, einen Cognacschwenker.
Die bernsteinfarbene Flüssigkeit schwappte bis an den Rand des Glases, als Thierry es mit zitternder Hand entgegennahm.
Er wagte nicht daran zu nippen, weil er noch immer von einer verbliebenen Übelkeit beherrscht wurde.
Pascal hatte sich auf die Sofalehne gesetzt. Die Arme vor der Brust verschränkt, betrachtete er seinen Bruder aufmerksam.
„Wann bist du angekommen?“
Thierry schluckte bei dem Überfluss an Speichel in seinem Mund. Es fiel im schwer sich auf Pascals Worte zu konzentrieren. Die Bilder, die so unvorbereitet auf ihn eingestürzt waren, hielten ihn noch immer in Bann.
„Ich bin kurz vor dir eingetroffen.“ Er hob das Glas an die Lippen, nahm einen tiefen Zug und verzog das Gesicht, als die Flüssigkeit brennend seine Kehle hinab rann.
Wann hatte er zum letzten Mal Alkohol getrunken? Vermutlich würde dieses eine Glas ausreichen ihn betrunken zu machen.
„Ich will dich nicht bedrängen, Kleiner. Aber ich glaube nicht, dass ich dir erklären muss, was da eben im Flur geschehen ist.“
Thierry schüttelte schweigend den Kopf und starrte in das Glas zwischen seinen Händen, die allmählich ruhiger wurden.
Bei Gott, das brauchte er ganz sicher nicht. Es war genau das geschehen, wovor er sich am meisten gefürchtet hatte. Die Erinnerungen waren wie gefräßige Ungeheuer über ihn hergefallen. Ohne jede Vorwarnung wurde er, einer Psychose gleich, in den Abgrund des Vergangenen gerissen, jedoch ohne sich bewusst zu werden, dass diese Bilder mehr als neun Jahre zurücklagen. Für ihn waren sie so real wie damals, an jenem schicksalhaften Abend. Er wusste verdammt gut, dass dieses jeder Zeit wieder geschehen konnte.
„Warum machst du es dir so schwer? Man könnte meinen, du möchtest dich nachhaltig für das bestrafen, was damals geschehen ist.
Mein Angebot steht nach wie vor, Thierry. Wir verkaufen die Hütte hier und du kommst mit mir nach Quiberon . Es wäre ein völlig neuer Anfang für dich. Du müsstest dich nicht ständig mit deiner Vergangenheit auseinandersetzen und den Anschuldigungen deiner Mitmenschen unterziehen. Was erwartet dich noch hier, außer dem Schmerz und der Verachtung.“
Thierry ließ den Kopf schwer gegen die Rückenlehne sinken und sah seinen Bruder unter halb geschlossenen Liedern an. Auf einmal fühlte er sich unendlich müde und hundeelend.
„Wir wissen doch beide, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis die Menschen in Quiberon unangenehme Fragen stellen und Wind von meiner Geschichte bekommen, Pascal. Ich würde sozusagen vom Regen in die Traufe kommen und schlimmer noch. Ich würde dich, Loronce und eure Tochter gleich mit in den Abgrund ziehen. “ Er schüttelte nachdrücklich den Kopf.
„Aber du würdest nicht ständig deinen eigenen Dämonen begegnen. Das wird hier, in diesen Räumen, in dieser Stadt unumgänglich sein.“
„Vielleicht ist das meine Form der Vergangenheitsbewältigung. Du hast dir dort ein neues Leben aufgebaut. Niemand weiß von dem Familienballast, den du mit dir herum trägst. Es ist besser, wir lassen alles so wie besprochen.
Und ganz ehrlich Pascal, “ er machte eine umfassende Bewegung, welche die gesamten Räumlichkeiten mit ein schloss, „wer kauft ein Haus, das eine solch grauenvolle Vergangenheit vorzuweisen hat?“
Die Antwort blieb Pascal ihm schuldig.
Einen Moment saßen sie schweigend beieinander, jeder seinen Gedanken nachhängend, während das Knistern des Feuers die Stille durchbrach.
Schließlich schlug Pascal sich mit den flachen Händen auf die Beine und erhob sich.
„Nun gut, wenn du dich also entschieden hast und ich zum derzeitigen Zeitpunkt nichts vorbringen kann um deine Meinung zu ändern, dann könne wir ebenso gut die wichtigen Dinge angehen.“
Er deutet auf einen Ordner der auf dem Wohnzimmertisch lag.
„Deine Unterlagen. Kontoauszüge, Versicherungsschreiben...der ganze Papierkram eben. Ich habe versucht mit allem auf dem Laufenden zu bleiben und hoffe, es ist mir gelungen. Trotzdem solltest du bei Gelegenheit einen Blick darauf werfen.
Deine Habseligkeiten, die du aus Tours mitgebracht hast, habe ich schon vor ein paar Tagen hergebracht. Lorence hat den Kühlschrank gefüllt, die nächsten Tage solltest du gut über die Runden kommen.“
Er schob eine Hand in die Hosentasche und zog ein Schlüsselbund heraus, das er zu dem Ordner auf den Tisch legte.
„Bevor ich es vergesse, ich habe dir meinen alten Renault in die Garage gestellt. Lorence meinte, es wäre an der Zeit sich ein neues Auto zu zulegen.“ Mit einem leicht verlegenen Lächeln sah er Thierry an.
„Wir dachten, du könntest noch ein wenig Freude an der alten Kiste haben.“
Thierry erhob sich, vorsichtig, weil er nicht wusste, ob seine Beine ihm sicheren Stand gewährten, und trat auf seinen Bruder zu.
Obwohl Pascal der ältere der beiden war, überragte Thierry ihn um fast einen Kopf.
Wortlos schlossen sich die beiden Brüder in die Arme.
Neun Jahre lang hatte Pascal unermüdlich an seiner Seite gekämpft und Thierry wusste, dass sein Angebot, ihn nach Quiberon zu begleiten, aus der Tiefe seines Herzens kam, wenn das auch bedeutete, dass er seiner eigenen Familie damit Schaden zufügen könnte.
Die Treue der beiden Brüder zueinander war unerschütterlich.
Thierry löste sich und klopfte Pascal noch einmal auf die Schulter:
„Vermutlich werde ich nie die Gelegenheit bekommen mich zu revanchieren, aber ich bin dir und Lorence unendlich dankbar für eure Hilfe. Und damit meine ich nicht nur die letzten Wochen, in denen es auf die Entlassung zuging.“
Thierry mochte sich täuschen, doch einen Sekundenbruchteil glaubte er Tränen in Pascals Augen zu sehen. Augenblicklich blinzelte dieser und wandte den Blick ab.
„Wir haben ein wenig verändert in deinem Haus, Thierry. Ich hoffe das ist okay für dich, aber ich bin sicher, dass es dir den Übergang von damals zu heute ein wenig erleichtern wird.“
Schließlich deute er nach oben in die Schlafräume und Thierry ahnte, was nun kommen würde.
„Nicoles Sachen haben wir alle entfernt. Ich dachte, es ist besser, wenn du dich nicht auch noch damit herumschlagen musst.“
Er nickte nervös und strich sich fahrig durch das Haar. Es würde die ganze Angelegenheit erleichtern, wenn er nicht in jeder Schublade und in sämtlichen Schränken auf ihre persönlichen Dinge stieß, ihren vertrauten Geruch in der Kleidung wahrnahm...der vermutlich nach all den Jahren gar nicht mehr vorhanden war. Doch er hatte erst vor wenigen Augenblicken erlebt, was Erinnerungen hervorrufen konnten.
Angewidert verzog er das Gesicht und schüttelte sich leicht.
„Alles okay?“ Die Besorgnis in Pascals Stimme wärmte ihn für einen Moment, dann nickte er ergeben.
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