Entschlossen drückte er die Klinke hinunter.
„Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass die Tür geschlossen bleibt…“
Sie hatte den Mantel bereits abgestreift: „Keine Sorge…ich werde schon nichts anrichten…“Ein müdes Lächeln glitt über ihre Züge: „Aber wenn Sie wollen, lasse ich die Tür offen.“
Thierry nickte knapp und entledigte sich dann selbst seiner nassen Jeans.
Die Hose, die sie ihm gegeben hatte, war zwar ein wenig weit, passte jedoch im Groben. Mit noch immer vor Schwäche zitternden Fingern knöpfte er schließlich das Hemd zu.
Sie lebte hier also nicht allein. Die Kleidung, die er nun trug, ließ ihn darauf schließen. Irgendjemand hätte sie früher oder später vermisst.
Thierry sah sich um. Das, was sie jetzt brauchten, war ein Cognac, der sie von Innen wärmte und die aufgewühlten Nerven zur Ruhe brachte, vielleicht auch den Schmerz hinter seiner Stirn betäuben würde. Doch weder in dem Schrank unter der Spüle, noch in den beiden Hängeschränken über dem Herd konnte er etwas Brauchbares finden.
„Was suchen sie?“ Ihre Stimme klang zaghaft, fast ein wenig verängstigt und er rief sich in Erinnerung, dass sie sich völlig fremd waren. Sie hatte keine Ahnung, wen sie da in ihr Haus geholt hatte, und somit war ihr Misstrauen gerechtfertigt.
Thierry wandte sich um und sah sie an. Die nasse Kleidung hatte sie gegen eine dunkle Freizeithose und einem blauen T-Shirt getauscht. Jetzt, da das grelle Licht ihr Gesicht beschien, erkannte er die feinen Linien um Augen und Mund, die darauf hinwiesen, dass sie doch älter sein musste als er anfangs vermutet hatte.
„Ich suche nach etwas Trinkbarem.“
„Wasser und Cola steht im Kühlschrank. Kaffee und Tee finden sie in den Dosen dort drüben“, Sie deutet auf ein Regal über dem Spültisch.
„Ich hatte eher an etwas Stärkeres gedacht, etwas das unsere Lebensgeister wieder weckt, vielleicht einen Cognac oder ähnliches…“
„So etwas hab ich nicht, tut mir Leid.“ Mit einem Seufzen sank sie auf den Chaiselongue, zog die Knie unter das Kinn und umschlang die Beine mit beiden Armen.
„Na gut, dann mach ich uns eben einen starken Kaffee.“ Erneut suchte er in Schubladen und Schränken, fand Kessel, Filter und Kanne.
Während er damit beschäftigt war den Kaffee zu bereiten, fragte er sich wie er nun weiter vorgehen sollte. Er hatte die Frau aus den Fluten gerettet, ja. Aber des Weiteren ging ihr Leben ihn nichts an. Nichts lag ihm ferner als in irgendwelche problematischen Lebensumstände hineingezogen zu werden. Gott bewahre, er hatte genug mit sich selbst zu tun. Am besten würde sein, den Kaffee zu trinken und sich dann auf den Weg zu machen.
Andererseits konnte er sie unmöglich sich selbst überlassen. Sie hatte gerade einen Suizidversuch hinter sich. Aus Erfahrung wusste er, dass es kaum bei dem einen Mal blieb. Wenn jemand den absoluten Wunsch hegte sein Leben zu beenden, würde er dieses auch ein zweites Mal versuchen.
Er füllte die schwarze, dampfende Flüssigkeit in zwei Becher und reichte ihr einen davon.
„Danke,“ sagte sie leise und umschloss mit beiden Händen die Tasse um sich daran zu wärmen. Thierry zog sich einen Stuhl heran und ließ sich müde darauf nieder.
„Ist ihre Familie nicht da?“
„Ich habe keine Familie.“ Ihre Stimme klang emotionslos.
Er zupfte an dem Hemd, das er trug: „Aber die Kleidung…“
„Ist von meinem verstorbenen Mann. Ich wohne alleine hier.“ Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: „Ich bin Liliana und wer sind Sie?“
„Thierry.“ Er nippte nachdenklich an seinem Kaffee, spürte wie die heiße, bittere Flüssigkeit seinen müden Geist belebte.
„Liliana. Ein ungewöhnlicher Name. Sie sind keine Französin, oder?“
Sie schüttelte leicht den Kopf: „Nein, ich komme aus Deutschland. Mit achtzehn Jahren kam ich als Au-Pair hier her und bin geblieben.“
„Sie sprechen sehr gutes Französisch, man hört praktisch keinen Akzent.“ Doch auch sein Kompliment konnte ihr kein Lächeln entlocken.
Einige Sekunden haderte er mit sich. Wie weit konnte er gehen? Stand es ihm zu, nach dem Wie und Warum zu fragen? Andererseits musste er wissen, ob er sie in dieser Nacht allein lassen konnte.
„Warum Liliana, warum haben Sie das getan? Gibt es nicht immer einen Ausweg?“
„Nicht immer,“ sagte sie leise und ihre Augen füllten sich mit Tränen, „Das war keine leichtfertige Entscheidung…Ich…Es gibt keine realistische Lösung meiner Probleme. Ich habe Abschied genommen. Von allem…Und ich weiß nicht, ob ich das ein zweites Mal schaffe…“
Sie sprach mehr zu sich selbst, dennoch zuckte Thierry bei ihren Worten zusammen. Für sie war dieses Thema mit dem missglückten Versuch noch nicht erledigt.
„Wissen Sie, nichts ist so wertvoll wie das Leben. Es steht uns nicht zu, es mit einer einzigen Handbewegung hinweg zu wischen. Vielleicht sollten Sie den Umstand, dass ich Sie heute vor dem sicheren Tod bewahrt habe, als Geschenk sehen und einen Neuanfang wagen.“
Diese Worte auszusprechen, über das Leben und den Tod zu sinnieren, bereiteten ihm Unbehagen und er wandte verlegen den Blick ab um dem ihren auszuweichen.
„Was wissen Sie schon?“ Ihre Stimme war schwer vor Resignation.
„Mein Leben ist sinnlos. Alles, wofür es sich zu Leben lohnt, habe ich verloren...alles.“
Ein Schluchzen löste sich aus ihrer Kehle und erfüllte für Sekunden die Räumlichkeit, jagte ihm eine Gänsehaut über den Körper.
Er hob den Kopf und sah die Tränen auf ihren Wangen.
Gut, solange sie noch fähig war Emotionen zu zeigen, war ihre Seele noch lebendig. Sie mochte gebrochen sein, aber sie war nicht tot.
„Ich weiß sehr viel mehr als du ahnst...“ Für einen Moment war sein eigenes Leid so präsent, dass er sich unterbrach, wartete bis der Gefühlssturm in seinem Innern zur Ruhe kam.
„ Natürlich kenne ich deine Geschichte nicht...Aber meine eigene hat mich oft genug an den Rand des Wahns getrieben. Diese Klippe, auf der du dich befindest, kenne ich selber nur allzu gut. Doch es gehört viel mehr Mut dazu, hinabzusteigen als zu springen. Manche Wege mögen ungangbar scheinen, doch irgendwo im Dickicht gibt es immer eine Lücke, und mag sie noch so klein sein.“
Neugierig hob die junge Frau den Kopf und betrachtete ihn. Er konnte die einzelnen Tränen in ihren dunklen Wimpern schimmern sehen und beneidete sie darum. Nur selten hatte er geweint, hatte die Erleichterung gespürt, wenn die Anspannung nachließ und Tränen sich ihren Weg aus den fest verriegelten Toren der Selbstbeherrschung bahnten. Neun Jahre hatte er es nur hin und wieder, in den dunklen Stunden einsamer Nächte gewagt sich dieser „Schwäche“ hinzugeben.
„Bist du neu auf der Insel? Ich… ich habe dich noch nie hier gesehen.“ Die Frau, die sich Liliana nannte, wischte sich mit einer müden Handbewegung die Tränen vom Gesicht, bevor sie an dem mittlerweile fast kalten Kaffee nippte.
Thierry tat es ihr gleich, ehe er antwortete: „So kann man das nicht sagen. Ich war lange Jahre fort.“ Sie nickte leicht und er vermutete, dass sie sich mit dieser Erklärung zufrieden gab.
„Hast du Familie hier?“
„Nein... nicht mehr, “ sein Zögern hatte nicht länger als eine Sekunde angehalten, dennoch konnte er deutlich erkennen, dass es ihr nicht entgangen war. Ihre grünen Augen musterten ihn mit einer Intensität, derer sie sich vermutlich nicht einmal bewusst war und die ihm eine unangenehme Hitze durch den Körper jagte.
„Mein Bruder ist schon vor Jahren fortgezogen, er lebt in Quiberon, auf der Halbinsel Quiberon, im Süden der Bretagne, meine Vorfahren kommen von dort.“
Selbst in seinen eigenen Ohren, klang das nach einer lahmen Erklärung. Doch er war nicht bereit, hier und jetzt seine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die sie vermutlich unlängst kannte, nur nicht mit seinem Gesicht in Verbindung brachte.
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