Er verharrte, ließ sich einen Moment vom Wasser treiben, bis sein Körper neue Kraft gewann, dann sah er sich verzweifelt um. Wo war er? Wo war der andere?
Thierry spürte, dass er ihm nah war, dass er vielleicht nur noch die Hand ausstrecken brauchte. Jahrzehntelange Erfahrung mit dem Atlantik hatte ihn gelehrt, seinem Instinkt zu vertrauen...doch er konnte weder hören noch sehen, in dem seufzenden, jaulenden Wasser, das ihn umgab.
Die Nacht war undurchdringlich schwarz, nur durch schäumend weiße Gischt erhellt, die sich wie Geister vor seinen Augen erhob, ihn mit sich riss, wieder in die Tiefe zog und im nächsten Moment hoch warf, als sei er nichts weiter als eine Stoffpuppe.
Es war sinnlos, waghalsig. Er spürte die Kälte die seinen Körper langsam lähmte, die schwindenden Kräfte. Wenn er nicht augenblicklich versuchte den Strand anzusteuern würde er verloren sein.
Noch einmal sah er sich suchend um und sah die Welle, fünf, vielleicht sechs Meter hoch, welche sich drohend hinter ihm auftürmte und mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zukam.
Grundgütiger, er hatte schon zu viel Energie verloren. Sie würde ihn vernichten, würde ihn in den sicheren Tod reißen. Doch ein Blick zum Ufer zeigte ihm, dass es unmöglich war dorthin zu gelangen. Schon spürte er die Strömung, die ihn dichter an das Ungetüm heranzog.
Als die Welle auf ihn stürzte schloss er die Augen, der Dinge harrend die ihn erwarten würden.
Etwas prallte mit so immenser Kraft gegen ihn, dass es Thierry den Atem raubte und er sich Halt suchend daran festklammerte. Er ließ auch nicht los, als der Sog der Welle ihn hinab in die Dunkelheit zog.
Über ihm, um ihn herum, nichts als gurgelndes, säuselndes Wasser. Seine Gliedmaßen schienen gefühllos, auf Grund der durchdringenden Kälte und der Krämpfe, die ihn nur einige Augenblicke zuvor noch quälten. Er hatte das Gefühl, als schwebe sein Kopf in einem Vakuum, einem luftleeren Raum, der sich unendlich schnell im Universum bewegte.
Thierry spürte das seine steifen Finger sich zu lösen begannen von jenem Anker an dem er so krampfhaft festhielt.
Nein, es durfte nicht sein, nicht jetzt, noch nicht.
Nicht aufgeben, du darfst jetzt nicht aufgeben. Neun Jahre hast du gegen unsichtbare Geister gekämpft, da muss es doch ein Kinderspiel für dich sein, dich den sichtbaren zu stellen.
Mit letzten Kraftreserven sank er in die Knie, stieß sich von dem sandigen, weichen Meeresboden ab und strebte, unendlich langsam wie ihm schien, der Oberfläche zu.
Als er die Wassergrenze durchbrach, spürte er, wie das entweichende Leben in seinen Körper zurück glitt.
Gleichsam mit der zerschellenden Flutwelle schien auch das Unwetter abzuebben. Zum ersten Mal warf er einen Blick auf den Gegenstand, den das gurgelnde Wasser ihm in die Arme getrieben hatte.
Erstaunen machte sich breit, als er die Biegsamkeit der Materie spürte. Ein Mensch.
Er hielt einen Menschen in den Armen, eingehüllt in schwere Kleider, die ihn unweigerlich, auch bei ruhigerem Seegang, in die Tiefe ziehen mussten. Der leblose Körper, den er fest umschlungen hielt, fühlte sich steif und eiskalt in seinen Armen an. Er musste ihn an Land bringen und beatmen, solange noch die Chance auf Leben bestand.
Doch es fiel ihm schon schwer sich allein fortzubewegen, wie sollte es da gelingen, für zwei zu sorgen?
Du schaffst es, du musst . Er schob dem anderen beide Arme um den Leib und zog ihn auf sich, während er halb auf dem Rücken schwimmend versuchte den Strand anzustreben.
Zeitweise, wenn er glaubte das Brennen in seinen Lungen nicht länger ertragen zu können, wenn seine Last, die kaum Gewicht trug, ihn nieder zu drücken drohte, ließ er sich von den Wellen, die an Kraft verloren hatten treiben. Dann setzte er wieder seine Beine ein, trat und schob, spürte, dass seine Reserven sich dem Ende neigten und kämpfte doch wie ein Besessener.
Aus den Tiefen des Ozeans erklang ein fernes Grollen, welches sich in ein klagendes Stöhnen steigerte und das er doch nicht als Ausmaß seiner eigenen Qual erkannte.
Und dann spürte er plötzlich den schwammig, sandigen Untergrund, der deutlich das Ufer ankündigte.
Mühsam stemmte er die Beine auf den Grund, griff seiner kostbaren Fracht unter die Arme und zog und zerrte sie mühevoll aus der salzigen Gischt, soweit, bis er den feineren, vom Regen feuchten Sand erreichte, der jedoch vom Meer unberührt blieb.
Seine Hände waren so starr, dass es ihm kaum gelang die oberen Knöpfe des Mantels zu öffnen. Als der schwere Stoff vorn auseinander fiel, glaubte er in der fast schwarzen Dunkelheit die Statur eines Kindes zu erkennen. Mit zitternden Fingern versuchte er den Puls an der Hauptschlagader des schlanken Halses zu ertasten...doch da war nichts.
Ohne zu zögern begann er mit der Wiederbelebung.
Den Hals seines Gegenüber leicht überstreckt holte er tief Atem, verschloss die Nase des vor ihm liegenden, leblosen Körpers und presste seine Lippen auf den geöffneten Mund.
Nach zwei Atemstößen begann er mit der Herzmassage. Seine Hände waren eiskalt, fast taub und vermochten kaum seinem Willen zu gehorchen, dennoch rang er um Beherrschung, wenngleich sein ganzer Körper nach einer Pause verlangte.
Thierry ertastete die untere Hälfte des Brustbeins, spürte eine leichte Erhebung und stellte erstaunt fest, dass er eine junge Frau aus den Fängen des Meeres gerettet hatte. Die Handwurzeln übereinander gelegt, begann er mit kräftigen Stößen. Er spürte wie das Brustbein nachgab und gegen die Wirbelsäule stieß.
...dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwanzig,... er lauschte, starrte auf den Brustkorb ...nichts geschah. Wieder tastete er nach dem Puls, doch er spürte nichts als kühle, feuchte Haut.
Erneut beatmete er, setzte die Herzmassage...zehn, elf, zwölf...
„Atme verdammt. Atme endlich..., “ der Verzweiflung nah schrie er die Worte heraus, immer kraftvoller wurde die Massage bis er das Beben spürte, welches durch ihren Körper lief.
Sekunden später begann sie zu würgen, zu husten und zu spucken.
Thierry fasste sie bei den Schultern und drehte sie auf die Seite. Ein Schwall salzigen Wassers ergoss sich in den vom Regen feuchten Sand.
„So ist‘s gut, ja.“ Zaghaft strich er ihr, in einer impulsiven Geste über das nasse, kurz geschnittene Haar, in dem Versuch ihr Zittern und das heftige Schluchzen zu mildern.
„Du hast es geschafft, du lebst. Alles wird gut werden.“
Ganz langsam spürte Thierry wie die Anspannung nachließ und eine bleierne Ruhe von seinem Körper Besitz ergriff. Seine Glieder waren so schwer, dass er befürchtete keinen Fuß vor den anderen setzen zu können. Es war, als habe ihm jemand den Willen ausgehaucht und nur noch seinen reglosen Körper zurückgelassen.
Nur fünf Minuten so verharren, den Kopf auf dem weichen Untergrund gebettet...zu Kräften kommen...
Der verbliebene Wind strich über seinen feuchten Körper hinweg und ließ ihn frösteln.
Sie sollten schnellstmöglich ins Trockene.
Er warf einen Blick auf die junge Frau die, ihm abgewandt, noch immer rasselndem Atems, dalag. Er konnte ihr Schluchzen nicht länger vernehmen, aber am Zucken der Schultern ahnte er, dass sie weinte.
Vorsichtig, damit sie nicht erschrak, berührte er ihre Schulter.
„Es ist kalt und wir sind beide völlig unterkühlt. Wir sollten gehen, bevor der Regen erneut einsetzt.“
Sie sagte nichts, sah ihn auch nicht an, sondern verharrte reglos in ihrer Position.
Vermutlich war sie zu schwach um zu laufen, doch er konnte sie unmöglich tragen, dafür hatte er sich zu sehr verausgabt.
Mit vor Erschöpfung zittrigen Händen wischte er sich das Wasser vom Gesicht und sah sich suchend nach seinem Hemd um, welches er sich in der Eile vom Leib gerissen hatte. Die Schuhe lagen irgendwo auf dem Dünenkamm. Die Flut hatte nun fast den Höchststand erreicht und somit den Strand fast vollständig überspült. Vermutlich war es der schäumenden Gischt zum Opfer gefallen.
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