„Natürlich unter dem Kopfkissen.“
„Natürlich!“ Thierrys Stimme klang fest, doch der hilfesuchende Blick, den er Liliana zuwarf, machte klar, dass er keine Ahnung hatte, wovon das Mädchen sprach.
„Du weißt schon Thierry, wegen der Zahnfee“, beeilte sie sich zu sagen.
„Ja, klar, wegen der Zahnfee.“
„Die kommt doch heute Nacht und nimmt den Zahn mit. Ich habe ihn extra so unter das Kopfkissen gelegt, dass sie ihn auf jeden Fall finden muss.“
Sie beugte sich vor und flüsterte: „Weißt du noch was du dir gewünscht hast, als sie deinen Zahn geholt hat?“ Liliana konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Die Kleine nahm den fremden Mann ganz schön unter Beschuss.
„Gewünscht?“ fragte er mit leichter Verzweiflung.
Elise rollte die grünen Augen als sei Thierry begriffsstutzig: „Guck mal, wenn du deinen Zahn verlierst und ihn zur Nacht unter dein Kopfkissen legst, dann kommt die Zahnfee, nimmt deinen Zahn mit, erfüllt dir aber dafür einen Wunsch,“ Elise nahm beide Hände halb hoch, drehte die Innenflächen gen Himmel und fragte skeptisch: „Klar?“
Thierry strich sich lächelnd mit der flachen Hand über das glatt rasierte Kinn und nickte: „Klar. Aber leider kann ich mich nicht mehr erinnern, welchen Wunsch mir die Zahnfee erfüllt hat. Weißt du Elise, wenn du so alt bist wie ich, ergeht es dir vielleicht ganz ähnlich.“
Sie presste die Lippen zusammen, nickte zustimmend und blies eine Wange auf: „Stimmt. Du bist wohl schon ganz schön alt, oder?“
„Elise“, rief Liliana entsetzt aus. Doch Thierry hob charmant lächelnd die Schultern: „Aus deiner Sicht vermutlich schon steinalt.“ Das Mädchen nickte bedenklich.
„Aber vielleicht verrätst du mir, was du dir so dringendes von der Zahnfee wünscht?“
Die Kleine senkte den Kopf und starrte auf ihre Schuhspitze, mit der sie immer wieder ein Astloch in der Fußdiele zu traktieren versuchte.
„Eigentlich darf man nicht darüber sprechen, weil es dann sein kann, dass der Wunsch nicht in Erfüllung geht.“ Thierry hob abwehrend beide Hände: „Okay, das kann ich natürlich verstehen...“
„Aber vielleicht..., “ Elise legte den Kopf in den Nacken und suchte so den Blick ihrer Mutter, die immer noch hinter ihr stand. „Maman, ihm kann ich es doch sagen. Er ist ja dein Freund.“
Liliana spürte wie heiße, feurige Röte in ihre Wangen stieg. Warum die unbedachte Aussage des Kindes sie so in Verlegenheit brachte, konnte sie nicht sagen. Vielleicht lag es auch an der amüsiert hochgezogenen Augenbraue Thierrys, der sie mit stillem Vergnügen musterte und ihre emotionale Reaktion wohlwollend registrierte.
Sie räusperte sich nervös und sagte: „Mir hast du ihn auch noch nicht verraten. Ich glaube kaum, dass die Fee sich davon abhalten lässt, dir deine Wünsche zu erfüllen, wenn du dich uns anvertraust.“
Elise nickte nachdenklich, dann faltete sie ihre kleinen Händchen, wie zum Gebet und schob sie unter das Kinn. Mit fest geschlossenen Augen sagte sie inbrünstig: „Also, ich wünsche mir ganz, ganz doll, dass ich für immer bei Maman bleiben kann und nie mehr so lange zu Mamie und Papi muss.“
Die darauf folgende Stille erschien Liliana ewig. Ihr Kopf schien leer zu sein, doch zeitgleich hatte sie das Gefühl, jeden Moment hemmungslos in Tränen auszubrechen.
Tränen, die sie stets tapfer vor Elise verborgen hielt. Sie schloss fest die Augen und kämpfte gegen den Schwindel, der sie erfasste, unter der Anstrengung ihrer Gefühle Herr zu werden.
Plötzlich vernahm sie Thierrys Stimme, die einfühlsam das lautlose Schweigen durchbrach.
„Ich bin ganz sicher, dass die Fee deinen Wunsch erhört, Elise. Wer könnte einem so bezaubernden Mädchen schon etwas abschlagen. Aber weißt du, manchmal dauert es etwas länger, bis Wünsche sich erfüllen. Nur weil dieses nicht unmittelbar geschieht, heißt das nicht, dass dein Wunsch niemals in Erfüllung geht. Verstehst du das?“
Elise nickte ernst, während sie seinen Worten lauschte.
„Du bist wirklich ein kluges Mädchen.“ Mit einer zärtlichen Geste zerzauste er ihre Locken, „Und jetzt sollten wir unseren Kakao trinken, bevor er ganz kalt wird.“
Thierry richtete sich auf und sah Liliana an, die ihm einen dankerfüllten Blick zuwarf.
Er schenkte ihr ein beruhigendes Kopfnicken, das ihr tatsächlich das Gefühl vermittelte, alles sei okay. Und vielleicht war es das auch. Für die nächsten Stunden, Tage, möglicherweise auch Wochen.
Aber dann? Was konnte sie Elise sagen, wenn sie, wie all die anderen Male auch, weinend vor ihr stand, weil die Abschiede immer wiederkehrten.
„Was habt ihr denn für heute geplant?“ Thierry riss sie aus ihren trübseligen Überlegungen.
Sie setzte sich zu Elise auf die von Sonne, Salz und Wind verblichene Sitzbank, während Thierry sich auf der anderen Seite des Holztisches in einen alten Korbstuhl niederließ, welcher, bei der Größe des Mannes, plötzlich erstaunlich klein und zerbrechlich wirkte.
Liliana griff erschöpft nach ihrer Tasse und schloss die Hände darum.
„Wir haben eigentlich keine feste Planung.“ Mit einem Seitenblick auf Elise, die bereits das zweite Stück Kuchen vertilgte, fragte sie, „Oder hast du einen besonderen Wunsch, Schatz?“
Elise schluckte das süße Gebäck herunter und betrachtete ihre Mutter mit vorgeschobener Unterlippe.
„Wir könnten Drachen fliegen lassen.“
Thierry legte den Kopf zurück und warf einen Blick in den für Oktober erstaunlich azurblauen Himmel.
„Ich fürchte daraus wird heute nichts. Es ist überraschend windstill für die Jahreszeit.“ Als er Elise enttäuschtes Gesicht sah fügte er hinzu, „ Aber ich bin sicher, dass du in den nächsten Wochen noch genug Gelegenheit bekommen wirst, deinen Drachen steigen zu lassen.“
Elise rutschte aufgeregt vor und sah ihn bittend an: „Kannst du mir dann helfen? Maman weiß nie, wie man die Leine halten muss. Bis jetzt haben wir den Drachen noch nie hoch bekommen.“
Liliana spürte seinen Blick auf sich ruhen. Leichtes Unbehagen befiel sie. Es war ihr nicht recht, dass Elise Thierry gleich so vereinnahmte, zumal sie selber noch gar nicht wusste, wo diese Freundschaft hinführen sollte, geschweige denn, ob sie sie überhaupt aufrecht erhalten wollte.
„Schatz, Thierry hat sicher auch noch andere Dinge zu erledigen...,“
„Bei Gelegenheit und den richtigen Windverhältnissen zeige ich dir sehr gern, wie du deinen Drachen richtig steigen lässt“, unterbrach er Liliana und warf Elise ein verschmitztes Lächeln zu. Das Kind klatschte vor Freude und Begeisterung in die Hände.
„Aber für heute hätte ich einen anderen Vorschlag“, er beugte sich leicht vor und stützte sich mit den Armen auf dem Tisch ab, vermutlich, um Elise das Gefühl zu geben, ebenbürtig zu sein.
„Kannst du reiten Elise?“
Die Kleine nickte aufgeregt, doch Liliana hob die Hand: „Ich denke, das ist keine so gute Idee.
Elise hat Asthma, und in der vergangenen Woche gerade einen Anfall erlitten. Pferdehaare könnten die Atemwege erneut reizen...“
„Och Maman, ich bin schon ganz oft geritten, und es ist nie etwas passiert.“
Erstaunt sah Liliana ihre Tochter an: „Wo? Wo bist du geritten? So wie ich deine Großmutter kenne, hätte sie das niemals erlaubt.“
Das Mädchen presste kurz die Lippen aufeinander und wich ein wenig beschämt dem prüfenden Blick der Mutter aus: „Mamie muss ja nicht alles wissen.“
Liliana biss sich leicht auf die Unterlippe, um den Impuls eines freudigen Lachens ob der Gerissenheit ihrer sechsjährigen Tochter nicht nachzugeben.
Sie begegnete Thierrys Blick, der mit hochgezogenen Augenbrauen und einem amüsierten Lächeln um den Mund dem Wortspiel folgte.
Ernster als ihr zumute war, fragte sie dennoch: „Wo, Elise?“
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