„Wenn das so ist, nehme ich dein Angebot natürlich gerne an. Kakao und Kuchen klingt phantastisch.“
„Gut, dann kannst du dich schon mal nützlich machen und die Tassen nach draußen tragen, während ich nachsehe, wo meine Tochter abgeblieben ist.“ Sie schob ihm die Tassen hinüber, die sie randvoll mit dem süßen, braunen Getränk gefüllt hatte.
Sie fand Elise tatsächlich im Schlafzimmer. Das Mädchen war damit beschäftigt, ihren Zahn so unter das Kopfkissen zu drapieren, dass die Fee ihn auch finden konnte, wenn sie darauf lag.
„Der Kakao ist fertig, mein Schatz. Komm, wir haben Besuch. Ich möchte dir jemanden vorstellen.“
„Besuch?“ Elise Augen wurden groß. „Du hast nie Besuch, Maman.“
Das stimmte. Seit Mathieus Tod, hatte Liliana sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen. Sie ließ niemanden an sich heran, gewährte niemals Einblick in die tiefen Wunden ihrer Seele. Die wenigen Menschen, die sie zu Lebzeiten Mathieus ihre Freunde nannte, hatten schon beizeiten das Weite gesucht, weil Lilianas verschlossene Art keinen Zugang zu ihrer Person gewährte.
Sie seufzte über die bittere Erkenntnis, dass ihre Tochter mit kaum sechs Jahren die Situation schon so klar einordnen konnte.
„Du hast Recht. Wir zwei haben uns viel zu lange vor der Welt da draußen abgeschottet, “ Liliana straffte die Schultern und wagte ein Lächeln, „Aber das soll nun anders werden.“
Die Hände auf den schmalen Schultern ihres Kindes, schob sie Elise in das spätherbstliche Sonnenlicht hinaus, welches die Erde mit einem sanften Goldton erwärmte.
Thierry lehnte mit dem Rücken lässig an der Umzäunung, welche, ebenso wie die Veranda, das gesamte Haus einfasste.
Er trug einen dunkelgrauen Kapuzenpullover, unter dessen Ausschnitt ein weißes T-Shirt hervor blitzte. Seine langen Beine steckten in ausgebleichten Jeanshosen, die seine Oberschenkel fest umschlossen.
Die bestiefelten Füße hatte er an den Knöcheln leicht übereinander geschlagen.
Er sieht gut aus , fuhr es Liliana durch den Kopf. Die Art wie er da stand, den Kopf zur Seite geneigt und leicht gesenkt. Mit gestrafften Schultern und den tief in die Taschen geschobenen Händen, strahlte er eine Männlichkeit aus, derer sie sich bei seinem Anblick bisher nicht bewusst gewesen war.
Aber er war ein Mann. Aus jeder Faser seines Seins strotzte dieses heraus. War sie blind gewesen? Was hatte sie denn in ihm gesehen? Und was sah er in ihr? Was wollte er von ihr?
Ging es ihm wirklich nur darum, ihrer gestrandeten Seele wieder auf die Beine zu helfen? War er der barmherzige Samariter, für den er sich ausgab und den sie so verzweifelt in ihm zu sehen wünschte? Oder würde er früher oder später eine Gegenleistung einfordern?
Plötzlich überkamen Liliana Zweifel. Sie kannte den Menschen Thierry kaum. Im Grunde wusste sie nichts über ihn! Wo hatte er die letzten Jahre gelebt? Wie hatte er sein Geld verdient? Mit welchen Menschen hatte er sich umgeben?
Es war nicht richtig, Elise diesem Fremden vorzustellen, der es bestens verstand seine Geheimnisse zu wahren. Und dass es die gab, wurde ihr einmal mehr deutlich, als er beim Klang ihrer Schritte, die auf den Holzbohlen widerhallten, den Kopf anhob und sie mit seinen blauen Augen taxierte.
Liliana atmete tief, um den Druck auf ihrer Brust zu lindern. Ein seltsames Schwindelgefühl erfasste sie, als ein schiefes Lächeln seine Mundwinkel umspielte.
Vermutlich war es die Unsicherheit, die sie so empfinden ließ. Dieses befremdliche Gefühl, welches sich ihres Magens bemächtigte und eine gewisse Schwäche mit sich brachte, ignorierend sagte sie mit mehr Sicherheit in der Stimme, als sie empfand: „Elise, das ist Thierry, ein... Freund.“ Das Zögern in ihren Worten entging ihm nicht. Einen Moment lag sein Blick nachdenklich auf ihr.
Sie hätte ein Vermögen dafür gegeben, hätte sie in diesem Augenblick seine Gedanken lesen können. War ihm die Bezeichnung Freund vielleicht schon zu intim? Ihr selbst erschien es sehr wagemutig, ihn als solchen zu betiteln, nachdem sie sich zuvor mit dem Gedanken gequält hatte, wer er wirklich sein mochte. Dennoch ließ sich nicht leugnen, dass er ihr das Leben gerettet hatte und bereits einen Großteil ihrer Geschichte kannte.
„Thierry, meine Tochter Elise.“ Sie schob das Mädchen noch ein kleines Stück vor, jedoch ohne sie loszulassen. Noch immer ruhten ihre Hände auf Elise Schultern. Eine Geste, die dem Kind die gleiche Sicherheit vermitteln sollte wie ihr selbst.
Thierry löste sich aus seiner Haltung und sank, wie Liliana zuvor auch, in die Knie, um mit dem Kind auf Augenhöhe zu sein. Vermutlich mehr unbewusst, trat das Mädchen einen Schritt zurück und drängte sich dichter an die Mutter.
„Hallo Elise“, seine Stimme war tief und doch verhalten leise. Liliana spürte eine Gänsehaut, die sich vom Kopf abwärts den Körper hinunter zog.
Herrgott, was war nur mit ihr los? Sie hatte eindeutig zu wenig Schlaf gehabt. Das musste die Erklärung für diese seltsamen Gefühlsschwankungen sein.
„Einen sehr hübschen Namen haben Deine Eltern dir da gegeben.“
Der Ausdruck seiner Augen veränderte sich und Melancholie tränkte seine Züge. Liliana vermutete, dass er sich dessen nicht bewusst war. Nur selten ließ er es zu, dass sie einen Blick in sein Seelenleben erhaschte.
„Meine Mutter hieß auch Elise. Weißt du, dass es ein Lied gibt, das deinem Namen gewidmet wurde?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf und ihre dunklen Locken flogen von einer Seite zur anderen.
Thierry sah kurz auf und fing Lilianas Blick ein, in dem er sicher sehr deutlich ihre Verwunderung lesen konnte, bevor er mit ernster Miene wieder zu Elise sprach.
„Es heißt Für Elise . Der deutsche Komponist Ludwig van Beethoven hat es im neunzehnten Jahrhundert geschrieben. Allerdings hat man nie wirklich in Erfahrung bringen können, welcher Elise er dieses Lied widmete. Vielleicht hat er dabei an ein bezauberndes, kleines Mädchen wie dich gedacht.“
Er entlockte dem Kind ein erstes verschmitztes Lächeln, wenngleich es wohl kaum verstand, welche Tragweite die Bedeutung dieses Liedes hatte. Allein, dass dieser unbekannte Mann ihren Namen so rühmte, musste das Mädchen, welches nur äußerst selten mit Fremden zusammen kam, faszinieren.
Bei dem Grinsen entblößte sie ihre frische Zahnlücke und entlockte Thierry so einen überraschten Ausruf: „ Hey, dir fehlt ja ein Zahn.“
Liliana spürte, wie ihre Tochter sich stolz aufrichtete und ein leises Kichern von sich gab.
„Den hab ich heute Morgen erst verloren. Sieh mal wie groß das Loch ist, “ sie schob ihren Zeigefinger in den Mund und zog die Backe zur Seite, damit Thierry einen fachmännischen Blick auf die Wunde werfen konnte.
Interessiert beugte er sich leicht vor und verzog schmerzhaft das Gesicht: „Oh je, das hat sicher ganz scheußlich wehgetan.“
Nun prustete Elise laut heraus und es überraschte Liliana, in welch kurzer Zeit Thierry das Vertrauen des Kindes gewonnen hatte.
„Nein, gar nicht. Ich habe einfach ein bisschen daran gewackelt und gedreht, und als ich dann mein Frühstück gegessen habe, steckte er plötzlich im Brot. Das war lustig … “ Nach Luft ringend legte die Kleine ihre Hand auf den Bauch, so als würde er vor Lachen schmerzen.
„Na, da bin ich beruhigt, dass du keine Schmerzen hast“, gespielt wischte Thierry sich mit dem Handrücken imaginären Schweiß von der Stirn.
Liliana war so sehr fasziniert von dem Spiel der Beiden, dass sie ein wenig von der Körperspannung, die sie fast bewegungsunfähig machte, verlor.
„Und wo hast du deinen kostbaren Schatz jetzt?“
Elise zog die Unterlippe zwischen die Zähne und neigte den Kopf zur Seite. Mit einem tadelnden Blick, ob seiner dummen Frage, antwortete sie schließlich:
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