„Ich bin eines Tages in seinem Restaurant aufgetaucht und habe ihn gefragt, ob er bereit wäre meine Bilder in seinem Gästeraum auszustellen. Und tatsächlich, er ist gleich darauf eingegangen. So war es unausweichlich, dass wir einander wieder begegneten.“
Sie lächelte versonnen, in Erinnerungen daran, während sie ihren Blick auf die Hände gerichtet hielt. Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand spielte sie selbstvergessen mit dem Goldreif an ihrem Ringfinger.
„Ich mochte ihn von Anfang an. Er dagegen hat etwas länger gebraucht, das zu erkennen.“
Plötzlich sah sie ihn an: „Warum erzähle ich dir das alles? Ich meine... wir sind doch praktisch Fremde.“
Nachdenklich tasteten seine Augen ihre Züge ab, und sie hielt dem stand, wich ihm nicht aus. Trotz des trüben Lichtes erkannte er die feine Röte, welche sich über Wangen und Hals zog.
„So fremd sind wir uns gar nicht. Immerhin gibt es jemanden, den wir beide sehr gut kannten und der eindeutig eine Verbindung zwischen uns herstellt. “
Er rieb sich nachdenklich mit der flachen Hand über das Kinn, spürte die rauen Stoppeln auf der Haut. Müdigkeit breitete sich aus, lähmte seine Glieder, vermutlich die Wirkung des Rotweines und nicht zuletzt der Eindrücke eines viel zu langen Tages. Sein Blick streifte die Uhr an der Wand, deren Zeiger sich unaufhaltsam Mitternacht näherten.
Zeit aufzubrechen, dachte er, während er sich erhob und seine Hände nach der Jacke griffen, die er am frühen Abend auf die Sessellehne geworfen hatte.
„Du... du willst gehen?“ Er hörte das Zittern in ihrer Stimme, das ihm deutlich die Angst vor den langen Stunden einer einsamen Nacht signalisierte.
Eine Angst, die ihm selber mehr als vertraut war.
Als er auf sie zu trat, hob sie den Kopf. Ein unsicheres Flackern in ihren meergrünen Augen unterstrich das Gefühl des Unbehagens.
Eine Sekunde war er versucht sie in die Arme zu ziehen. Verlangen breitete sich in ihm aus, ohne jegliche Vorwarnung, heiß und impulsiv, ihr den Kummer und die Sorgen von den Zügen zu Küssen. Sie nur für wenige Stunden vergessen zu lassen, welche Bürde sie mit sich trug. Vielleicht auch selbst zu vergessen, an welchem Ort er die letzten Jahre gelebt hatte und warum. Eine Nacht...
Verdammt Junge, du warst zu lang mit keiner Frau mehr zusammen , schalt er sich im Stillen und fuhr sich in einer Geste des Missbehagens ungehalten mit einer Hand über den Nacken.
„Ich muss, Liliana.“
„Kannst du... vielleicht noch eine Nacht...“ Sie führte den Satz nicht zu Ende. Senkte stattdessen verlegen die Lider. Ein dichter, schwarzer Wimpernkranz warf im schwachen Licht der Nachtleuchte dunkle Schatten auf ihre hohen Wangenknochen. Er konnte sich nicht erinnern, je etwas Reizvolleres gesehen zu haben. Ihre Schüchternheit, welche die Zerbrechlichkeit ihres Wesens noch unterstrich, ließ sie in seinen Augen femininer erscheinen als jegliches andere weibliche Geschöpft dem er begegnet war.
Die Luft zwischen ihnen schien plötzlich sehr dünn zu werden.
Er atmete tief und sank noch einmal, wie zuvor bei seiner Ankunft, vor ihr in die Knie.
„Es wäre nicht richtig, Lia. Nicht heute Nacht.“ Ohne nachzudenken kam ihm die Koseform ihres Namens über die Lippen.
„Ich werde jetzt gehen. Das heißt aber nicht, dass ich nicht schon morgen wieder nach dir sehen werde. Ich brenne darauf, einen Blick in dein Atelier zu werfen. Ich hoffe die Künstlerin gewährt mir dies?“
Seine Frage zauberte ein zittriges Lächeln auf ihre Lippen und der Anflug von Hoffnung kehrte in ihre Augen zurück.
„Sehr gerne, wenn du ehrlich interessiert bist.“
Er hob die Hand und strich mit den Knöcheln der Außenseite behutsam über ihre Wange.
Ihre Haut schien zu glühen. Fast hatte er den Eindruck, dass sie sich seiner Zärtlichkeit entgegenlehnte. So als sei auch sie ausgehungert nach menschlicher Nähe, beherrscht von dem Wunsch einander zu spüren.
Die Berührung schickte ein elektrisierendes Gefühl in seine Eingeweide.
Thierry riss sich mit einem Ruck von ihr los, aus Angst jeden Moment die Kontrolle zu verlieren.
Leicht schwankend kam er auf die Füße und trat einen Schritt zurück.
„Also dann, wir sehen uns morgen.“
Seine Stimme klang ungewöhnlich rau in die Stille hinein. Ohne einen Blick zurück trat er durch die Tür hinaus ins Freie.
Als das Schloss mit einem leisen Klicken einrastete, hielt er den Knauf fest umfasst, während seine Stirn gegen die raue Holzoberfläche sank.
Was geschah da mit ihm? Neun Jahre hatte er seine Gefühle beherrscht wie ein Theaterschauspieler das Mienenspiel zum passenden Bühnenstück. Und plötzlich überrollten ihn Empfindungen und Wünsche mit der Macht eines Tsunami, schienen jeden verbliebenen Rest von Verstand und Anstand hinwegzuspülen.
Sein Herz donnerte im selben Rhythmus gegen die Rippen wie die Wellen an den nächtlichen Strand. Der eisige Hauch des Oktoberwindes umwehte sein erhitztes Gemüt und kühlte die Glut in seinem Innern.
Er richtete sich auf und füllte seine Lungen mit der klaren Nachtluft.
Die Holzbohlen der dreistufigen Treppe knarrten unter seinen Schritten, als er sie hinabstieg und schließlich den sandigen Weg Richtung Strand einschlug.
Er beschleunigte seinen Schritt, der anfangs noch ruhig und leicht war, fiel zunächst in ein langsames Lauftempo, das er jedoch schnell in einen Sprint steigerte.
Die Furcht, sich zu verlieren, trieb ihn an. Die Angst, den Stimmen in ihm, die ihn zur Umkehr anhielten, Gehör zu verschaffen. Er konzentrierte sich auf seinen Atem, versuchte die innere Unruhe zu übertönen, während alles in ihm nach der Erfüllung eines Verlangens schrie, das er sich viel zu lange versagt hatte.
Er lief, als ob es um sein Leben ginge. Der Nachtwind schnitt ihm ins Gesicht, blies ihm das Haar aus der Stirn und zerrte an seiner Kleidung.
Von dichten Wolkenbändern verdunkelt, beschien milchiges Mondlicht nur spärlich seinen Weg. Dennoch trat er sicheren Fußes zu, fand unbeirrt seinen Weg hinunter zum Wasser.
Thierry lief. Er lief, als könne er so sein Wünschen, Fühlen und Denken, sein Begehren eindämmen. Und doch wusste er, dass man einen Steppenbrand nicht mit den Füßen löschen konnte.
Verwandlung
Jede Begegnung,
die unsere Seele berührt,
hinterlässt in uns eine Spur,
die nie ganz verweht.
Lore-Lillian Boden
Sie tauchte den Pinsel in Phatanoblau. Die Vielfalt der Blautöne war unermesslich.
Blau gehörte zu den Farben die sie wählte, wenn Zerrissenheit sie quälte, in der Hoffnung, durch die Harmonie dieser Kolorierung die stummen Dialoge ihrer Seele zum Schweigen zu bringen.
Aber sie wählte auch Blau an Tagen wie diesen, Tage wie sie sie lange nicht erlebt hatte.
In Lilianas Erinnerungen mochten sie Lichtjahre zurückliegen, einer anderen Zeit, einer fernen Galaxie angehören.
Zum ersten Mal fühlte sie wieder einen Hauch von Glück unter ihrer Haut prickeln.
Mit der filigranen Spitze ihres Malwerkzeuges, zog sie eine exakte Linie auf der Leinwand.
Ihre Hand war völlig ruhig, ihr Geist leer. Die Konzentration lag einzig und allein auf der Arbeit, die vor ihrem geschulten Auge entstand.
In den frühen Morgenstunden war sie erwacht. Am Horizont zeichnete sich der erste helle Lichtstreifen ab und im Westen stiegen dunstige Schwaden aus den grasbewachsenen Dünen auf, verkündeten einen der letzten Sonnentage des Jahres.
Sie hätte nicht in Worte fassen können, was es war, das sie aus dem Bett trieb. Doch zum ersten Mal seit Monaten drückte sie nicht diese Lethargie nieder, die sie an anderen Tagen fast magnetisch unter der wärmenden Decke hielt. Bisweilen hatte sie das Steppbett sogar über den Kopf gezogen, mit dem Ansinnen, Fühlen und Denken einfach auszublenden, sowie die ganze Welt da draußen. Sie hatte kein Leben mehr in sich pulsieren gespürt. Irgendwo, auf dem langen, dornenreichen Weg, den sie zurückgelegt hatte, war sie selbst verloren gegangen.
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