Die Kleine drehte sich zu ihrer Mutter um und lächelte sie an. Dabei entblößte sie eine große Zahnlücke.
„Hey, dein Zahn ist ausgefallen,“ Liliana versuchte dem Kind zuliebe Begeisterung zu äußern, doch ihr Herz zog sich so schmerzhaft zusammen, dass sie sich leicht nach vorn beugen musste, um überhaupt noch Atmen zu können. Wieder eines der vielen großen Ereignisse, an denen sie nicht Teil gehabt hatte. Diese wundersamen Erlebnisse, wie zum Beispiel das Schwimmen lernen, Fahrrad fahren oder das Binden der Schuhschleife, blieben stets Patrice und Eliane vorbehalten. Ihre Zeit mit Elise war so knapp bemessen, dass kaum die Möglichkeit blieb, ihr die wichtigen Dinge, die zur kindlichen Entwicklung dazugehörten, beizubringen.
Elise schob ihren kleinen Zeigefinger an die Stelle, wo vor kurzem noch der wackelige Schneidezahn saß, den sie stolz präsentiert hatte.
„Heute Morgen erst. Sonst hätte ich dich ja auch angerufen, aber ich wollte, dass du es selber entdeckst.“
Liliana lächelte traurig. Um wenige Stunden hatte sie dieses Abenteuer verpasst.
Sie beobachtete, wie ihre Tochter eine Streichholzschachtel aus der Seitentasche ihrer leicht gefütterten Jacke zog und diese behutsam öffnete.
„Sieh mal, ich habe ihn mitgebracht. Dann können wir ihn gemeinsam unter das Kopfkissen legen. Vielleicht kommt ja heute Nacht die Zahnfee und holt ihn ab.“ Aus großen Augen, grün wie die ihren, sah das Mädchen sie aufgeregt an.
Liliana lächelte, strich Elise mit beiden Händen über das Haar und umfasste schließlich das kleine Gesicht: „Ganz bestimmt, mein Schatz.“ Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, als sie zärtlich mit den Lippen Elise Stirn berührte.
„Wir sollten ins Haus gehen. Ihr seid sicher durstig nach der langen Fahrt, und von deinem Lieblingskuchen hab ich ein großes Stück gekauft.“
Elise riss die Augen auf: „Den mit den dunklen Streuseln und dem hellen Guss?“
Liliana lachte: „Genau den.“
Eliane räusperte sich während sie mit der rechten Hand imaginäre Falten in ihrem teuren, cremefarbenen Leinenkostüm glättete.
„Ich werde gleich wieder fahren. Es gibt noch einiges zu erledigen, wenn ich schon mal hier auf der Insel bin, bevor ich dann die Rückreise antrete.“
Es fiel Liliana schwer ihre Erleichterung zu verbergen. Aus reiner Höflichkeit hätte sie ihrer Schwiegermutter nach der langen Fahrt, wenigstens eine Tasse frisch aufgebrühten Kaffee anbieten sollen. Doch sie fürchtete an den Worten zu ersticken, sollte sie auch nur den Versuch dazu unternehmen.
„Nun gut. Wie du meinst, wir möchten dich nicht aufhalten.“
Liliana nahm die kleine Hand ihrer Tochter in die ihre und begleitete Elian hinaus.
Die Sonne erwärmte, für Oktober mit erstaunlicher Kraft, die Erde und warf tanzende Lichter in das Geäst der Bäume, die noch Blätter trugen.
„Ich werde Elise am Sonntag pünktlich um sechs abholen. Bitte sorge dafür, dass sie dann auch alles gepackt hat und zur Abfahrt bereit ist.“
Eine Sekunde war Liliana versucht die Hand an die Stirn zu legen und zu salutieren, unter dem harten Tonfall, den ihre Schwiegermutter sich anmaßte. Doch sie war heute Morgen nicht zu Streit aufgelegt. Alles was sie wollte, war, die wenigen Stunden nutzen, die ihr mit Elise blieben.
Eliane beugte sich über die Kleine, drückte sie kurz an die Brust und gab ihr einen schnellen Kuss auf die Wange.
„Pass auf dich auf, meine Kleine. Und behalte immer schön die dicke Jacke an. Wenn die Sonne auch scheint, das täuscht. Der Wind ist schon beißend kalt, besonders hier am Wasser. “
An Liliana gewandt fuhr sie fort: „Gib acht auf sie, nicht dass ich ein noch kränkeres Kind zurück bekomme.“
Bevor Liliana auch nur die Möglichkeit zur Antwort hatte, war die Ältere schon eingestiegen und startete den Motor.
Elise winkte ihrer Großmutter nach, bis der Wagen außer Sichtweite war.
So sehr diese Begegnungen mit den Schwiegereltern Liliana auch aufrieben, wusste sie doch auch um die tiefe Liebe und Zuneigung ihrer Tochter zu den Großeltern.
„Na komm, wir machen uns erst mal einen warmen Kakao. Dann setzen wir uns auf die Veranda und du erzählst mir, was du in den letzten zwei Wochen erlebt hast.“
Während Liliana damit beschäftigt war die Milch zu erwärmen und das Schokoladenpulver darin zu verrühren, berichtete Elise von dem Teil ihres Lebens, an dem Liliana keinen Anteil hatte. Weder kannte sie die Kindergärtnerinnen, noch die Freunde oder Nachbarskinder, von denen ihre Tochter lebhaft sprach.
Natürlich stand es ihr zu, Elise in Tours zu besuchen. Doch Eliane und Patrice sprachen niemals eine Einladung aus und Liliana wusste, dass sie dort nicht willkommen war. Außerdem wollte sie es vermeiden, dass das Kind die immer tiefer werdende Kluft spürte, die zwischen ihrer Mutter und den Großeltern entstand. Ohnehin sah und fühlte die Kleine mehr, als gut für sie war.
In letzter Zeit begann sie Fragen zu stellen. Fragen auf die Liliana keine Antworten finden konnte. Zumindest keine, die einem Kind gerecht werden würden.
Warum durfte sie nicht bei ihrer Mutter leben, wie all ihre Freunde es taten?
Warum kam ihre Maman zu keinem der Feste, die der Kindergarten ausrichtete?
Die letzten zwei Geburtstage hatte sie mit Oma und Opa gefeiert. Mit ihrer Mutter durfte sie erst zwei Wochen später zusammen kommen. Warum war das alles so?
Liliana mühte sich nach Kräften, dem Kind ehrlich zu antworten, sie nicht zu verletzen, und ohne dabei die Großeltern in den Schmutz zu ziehen. Dieses alles zu vereinbaren, verlangte ihr oft ein Ausmaß an Kraft ab. Kraft die sie, wie sie in der vergangenen Woche geglaubt hatte, nicht mehr besaß.
Mit einem Schaudern dachte sie daran, dass Elise heute nur das leere Haus vorgefunden hätte, wenn Thierry nicht...
Sie stütze sich einen Moment mit durchgedrückten Armen auf die Arbeitsfläche und schloss die Augen, um ihrer Gefühle Herr zu werden.
...Wenn Thierry sie nicht im letzten Moment gerettet hätte.
Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie hochschrecken. Sie riss die Augen auf und fuhr gleichzeitig herum, so dass sie den heißen Kakao verschüttete, der in einem Topf vor ihr, auf der Herdplatte stand.
„ Ach verdammt...,“ fluchte sie leise und griff nach einem Küchentuch, um das Malheur aufzuwischen.
„Hast du dich verbrannt?“ Beim Klang der tiefen, sonoren Stimme sah Liliana auf und blickte direkt in Thierrys blaue Augen.
Behutsam umfasste er ihr Handgelenk, zog sie vom Boden hoch, wo sie die klebrige Flüssigkeit aufwischte und begutachtete besorgt die zarte Haut auf ihrem Handrücken.
Liliana lachte nervös und entzog ihm ihre Hand: „Nein, mir ist nichts geschehen. Die Dielen haben das meiste abbekommen“, sie deutete auf den dunklen Fleck, der sich auf dem Holzfußboden abzeichnete.
Die Überreste des Getränkes kippte sie in den Ausguss und begann noch einmal von vorn.
„Möchtest du einen Kakao mit uns trinken? Wir wollten es uns gerade mit einem heißen Getränk und süßem Kuchen auf der Veranda gemütlich machen.“
„Wir?“ Thierry sah sich fragend im Wohnraum um.
Liliana folgte seinen Augen, konnte Elise jedoch nirgends entdecken.
„Elise und ich. Meine Tochter ist über das Wochenende zu Besuch, vermutlich bringt sie gerade ihre Tasche ins Schlafzimmer“, erklärte sie, während der Schneebesen mit schnellen Bewegungen die Milch zum Schäumen brachte.
„Deine Tochter also.“ Er lehnte sich mit der Hüfte leicht gegen die Küchenzeile und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich will nicht stören Liliana. Vermutlich seid ihr froh, ein paar Stunden für euch zu haben...“
„Du störst nicht, im Gegenteil. Ich bin sicher, Elise wird sich freuen dich kennenzulernen, “ Sie begegnete seinem Blick und sah wie die Skepsis sich langsam in Freude und Neugier wandelte.
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