Warum war das alles eigentlich ausgeblieben?
Sie seufzte wieder und schluckte bedrückt, weil sie mit jedem Meter, den der Bus fuhr, ihrem ungeliebten Schicksal näher kam. Zum Glück fuhr er im Augenblick wenigstens nicht. Er stand am Straßenrand und brummte missmutig vor sich hin. Was denn? Der Bus fuhr nicht?
Herrje!
Beinahe hätte sie über ihren Tagträumen das Aussteigen verpasst. Hastig griff sie ihr Täschchen, presste sich damit den leichten beigefarbenen Sommermantel gegen den Leib, um nicht irgendwo an den Sitzen hängenzubleiben, und sprang entschlossen aus dem Bus. Gerade noch rechtzeitig, ehe sich dessen Türen zischend wieder schlossen.
Ein wenig atemlos stand sie dann im Freien.
Hinter ihr setzte sich der Bus in Bewegung, der Motor dröhnte laut, sein Ton wurde langsam tiefer und immer leiser, bis das Gefährt wenig später in einiger Entfernung hinter der ersten Biegung der Landstraße entschwand. Die wenigen Fahrgäste, die sonst noch ausgestiegen waren, gerieten rasch außer Sicht. Gabi Schenke indes rührte sich nicht von der Stelle, sondern betrachtete regungslos das stattliche und doch seltsam abweisend anmutende Gebäude, das vielleicht schon bald für immer ihre Heimstatt sein würde.
Sie fühlte sich unendlich verloren.
Beklommen, fast ein wenig eingeschüchtert ließ sie ihren Blick weiter empor schweifen an dem mächtigen Klosterbau, dessen Mauern die Jahrhunderte gänzlich unbeschadet überstanden hatten. Recht besehen, erstrahlten sie sogar im Glanz eines frischen sattgelben Anstrichs mit blendend weißen Putzfaschen um Türen und Fenster, und der Komplex drängte sich regelrecht auf als Glanzstück eines Fremdenverkehrsprospekts, gepriesen als touristisches Kleinod der Region.
So knapp bei Kasse, wie einem bei der Kollekte bisweilen glauben gemacht wurde, war ihre Kirche möglicherweise doch nicht.
*
Eine halbe Stunde später schritt sie neben einer Ordensschwester durch den hochgotischen Kreuzgang, der den Hof des Klosters säumte. Gabi Schenke hatte eigens diesen Tag gewählt, weil er als „Tag der offenen Klostertür“ proklamiert war, als zeitgemäßer Tag der Öffnung nach außen, den das Kloster je einmal im Frühjahr, Sommer und Herbst veranstaltete.
Wobei veranstalten schon deutlich zuviel gesagt war.
Denn veranstaltet wurde überhaupt nichts, es bestand nur eben auch für Ordensfremde die Möglichkeit, das Kloster zu besichtigen. Besser gesagt: bestimmte, sehr begrenzte Teile davon.
In ruhigem und gleichförmigem Monolog schilderte Schwester Eulalia das Leben an diesem Ort der Stille:
„Das Kloster ist völlig von der Außenwelt abgeschirmt. Eine Welt in sich. Nach draußen führt nur die Pforte, durch die Sie eingelassen wurden.“
Das Sonnenlicht ergoss sich machtvoll in den Hof innerhalb der hohen Klostermauern und trieb ein munteres Spiel mit den Spitzbögen und den schlanken Säulen, die das Rippengewölbe des Wandelgangs trugen. Kunstvoll gehauene steinerne Rosetten in vielpassigem Maßwerk unterbrachen hie und da das Gemäuer und ließen Licht auch in entlegene Winkel fluten. Der lange Gang ohne jeden entbehrlichen Pomp strahlte eine Erhabenheit aus, die man in der schnöden Welt draußen vergebens gesucht hätte.
„In der Abgeschiedenheit unseres Konvents preisen wir ohne Unterlass den Herrn, auf dessen Gnade sich jede Kandidatin vorbehaltlos einlassen muss. Nur wenn sie die Prüfung der Postulatszeit ohne Makel übersteht, wird sie anschließend für das Noviziat zugelassen.“
Gabi hätte gerne etwas gefragt, doch schien ihr das ungehörig, solange Schwester Eulalia so in ihrem salbungsvollen Vortrag aufging. Das Antlitz der frommen Schwester erstrahlte beseelt, und ihre Augen schimmerten in entrücktem Glanz, während sie in getragenem Ton fortfuhr:
„Nur den Auserwählten, die auch in der Strengheit des Noviziats ihre bedingungslose Hingabe an unseren Herrn offenbart haben, wird es gestattet, am Ende ihr feierliches Gelübde abzulegen.“
Die Schwester faltete die Hände bei diesen Worten, und als sie mit verklärtem Blick auch noch den Kopf schräg legte, schwankte ihr Kinn und mit ihm ihr Kopf sekundenlang kaum merklich von einer Seite zur anderen.
„Ich bin gelernte Bibliothekarin“, sagte die schöne Besucherin, sobald sie überzeugt war, dass Schwester Eulalia geendet hatte. „Vielleicht könnte ich später meinen Dienst in der Bibliothek verrichten.“
Missbilligend schüttelte die fromme Schwester den Kopf:
„Das Kloster ist kein Vergnügungsdampfer. Eine Novizin verdingt sich nicht für bestimmte Tätigkeiten. Mit dem Eintritt in den Orden gibt sie sich bedingungslos dafür hin, unserem Herrn ganz und gar verfügbar zu sein.“
Gabi Schenke schwieg betroffen. Sie hatte sich nicht gleich blamieren wollen und war ein wenig überrascht von der Strenge, die ihr aus den Worten der sich vorher so sanftmütig gebärdenden Schwester entgegenschlug.
„Und wann muss sich eine Novizin entscheiden?“, fragte sie vorsichtig.
„Überhaupt nicht. Es wird über sie entschieden.“
Das kam erneut brüsk, und Gabi schluckte verlegen.
So ließ sie sinnend ihren Blick in den sonnenüberfluteten Klosterhof streichen, wo gelbe und lilafarbene Stiefmütterchen ein großes, leicht nach oben gewölbtes Kreuz formten, das von einfachen faustgroßen Kieseln eingefasst war. Kristallklares Wasser plätscherte munter aus einem Brunnen an der Stirnseite des Hofes. Wundervoll, dachte Gabi Schenke hingerissen, welch unvergängliches Symbol ewiger Reinheit!
*
Während sie dahinschritt neben der Schwester, die kaum älter war als sie und doch schon zehn Jahre hinter Klostermauern lebte, fühlte sie sich seltsam entrückt. Fast war es, als hätte ihr Geist den Körper verlassen, schwebte in geziemendem Abstand neben ihr und betrachtete sie interessiert.
Das war nicht gut.
Denn neben Schwester Eulalia empfand sie plötzlich wieder diese Beklommenheit, die ihr schon so oft zu schaffen gemacht hatte. Sie hatte eigens ein besonders konservatives Ensemble für ihren Besuch in den geweihten Hallen gewählt, und bei Gabi Schenke hieß konservativ wirklich sehr, sehr konservativ. Der Saum ihres Rockes reichte mindestens eine Handbreit unter ihre Knie, die flachen Schuhe waren nicht nur ausnehmend bequem und praktisch, sondern auch ausnehmend unansehnlich. Die Bluse war frisch gestärkt und wirkte trotzdem, als wäre sie selbst in einem Third-Hand-Shop für mittellose Großmütter noch zweite Wahl gewesen. Und um auch das letzte bisschen ihrer weiblichen Formen zu kaschieren, hatte Gabi noch eine schmucklose Jacke aus blaugrünem Walkloden übergeworfen, die nicht einmal Bob, dem Baumeister, zur Ehre gereicht hätte.
Sie hatte wirklich alles getan, um in keiner Weise aufreizend zu wirken. Denn natürlich wusste sie, dass sie an dieser geweihten Stätte allem irdischen Putz abhold zu sein hatte. Was sie ja ohnehin anstrebte, nicht nur an diesem Ort, an dem sich sterblich Geborene der Nichtigkeit ihres Daseins und der Verwerflichkeit fleischlicher Gelüste bewusst werden konnten.
So gesehen, war es der richtige Ort für jemanden wie Gabi Schenke. Für eine junge Frau also, die stets entsetzliche Angst hatte, als Flittchen angesehen zu werden. Obgleich diese Gefahr angesichts ihres Lebenswandels etwa so real war wie die Idee, im verschollenen Nachlass Richard Wagners könne ein Band Noten für fetzige Rock’n’Roll-Nummern gefunden werden.
Schwester Eulalia jedenfalls war über jeden unreinen Verdacht erhaben.
Ihr Habit reichte bis zum Boden, das Haar war bis zum Ansatz über der Stirn vom Ordensschleier verhüllt. Nicht einmal die Haarfarbe war zu erkennen. Ihr Gesicht hatte etwas Wächsernes, war unglaublich glatt, doch auf seltsame Weise ohne Leben. Dabei sprach sie eifrig und mit Begeisterung über den Alltag im Kloster, über das Eingebundensein in ein hehres Ganzes, und ihre Augen leuchteten dabei. Doch es war ein eigentümliches Leuchten, das Gabi nicht ganz so machtvoll beseelte, wie sie das in der geheiligten Umgebung erwartet hätte.
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