Wieder donnerte ein Schuss. Der Alchemist hörte die Kugel an seinem Kopf vorbei pfeifen, duckte sich, löste endlich die Bremse, der Wagen rollte an. Der nächste Schuss schlug in die Seitenwand des Wagens ein, dort, wo eben Fausts Kopf gewesen war.
Trabt an, dachte Faust, trabt an. Schneckengleich kam ihm die Bewegung des Wagens vor, hysterisch das Zwitschern der Vögel, hörte Stampfen von Füßen und einen Ruf. »Schießt, lasst ihn nicht entkommen.«
Mit einem Seitenblick sah er Bernhard von Pier auf den Weg laufen, Faust geballt, hochrot der Kopf. Er rannte hinter dem Wagen her, kam näher. Der Alchemist trieb seine Gäule weiter an, zuckte mit den Zügeln. Der Verfolger rannte, hinter ihm stürmten die Schützen auf den Weg und bauten ihre Musketen wieder auf. Endlich gewann der Karren an Geschwindigkeit, der Griff von Piers ging ins Leere, der Mann stolperte, fiel in den Dreck.
Faust lenkte seinen Wagen den Weg hinauf.
Das letzte Donnern der Geschütze. Links vom Wagen spritzte Dreck vom Weg hoch. Die Pferde gerieten endlich in Wallung. Noch einmal kam er der Stadtmauer gefährlich nahe, da der Weg auf die Wiese vor dem Nordtor mündete. Menschenmassen strömten aus der Stadt, bewaffnet, aufgebracht und zur Gewalt entschlossen. Eine Sekunde lang glaubte Faust, sie seien seinetwegen da.
Doch da waren andere Wagen, andere Menschen, andere Vertriebene.
Scheppernd ging eine Scheibe zu Bruch. Die grölenden Städter rannten hinter acht großen Zigeunerwagen her, vereinzelt wurden Steine geworfen. Die Kaltblüter vor jedem Wagen zogen aus Leibeskräften. Langsam rumpelten die Karren von der Wiese auf einen neuen Weg.
Der Mann auf dem ersten Wagen, ein kräftiger Zigeuner mit mächtigem Schnurrbart, duckte sich. Ein von der Seite geworfener Stein ging fehl, landete im Gras. Der kleine Junge, der ihn geworfen hatte, lief ein paar Schritte neben dem Karren entlang, mit wenig Hass und viel Naivität auf seinem Gesicht, dachte der Rom Heinrich Malfoss, schnalzte mit der Zunge und trieb die gescheckten Pferde an, welche die Hufe hoben und zogen mit einer Seelenruhe, die sich in gleicher Weise Malfoss wünschte, diese Gelassenheit, dann rollte sein Wagen in den dunklen Wald.
Man warf Steine und Stöcke hinterher, die meisten Menschen blieben am Stadttor stehen. Malfoss hörte Rufe, sah zurück. Die Menge geriet erneut in Bewegung, wich einem kleineren Wagen aus, der von links auf die Wiese vor dem Tor rollte. Auf dem Kutschbock saß ein Mann in Schwarz mit einer flachen Mütze auf dem Kopf, schwang die Peitsche und ließ sie auf seine Pferde niederfahren. Die Rösser wieherten, stemmten sich ins Geschirr.
Die Städter wurden ein letztes Mal aktiv, Kinder rannten schreiend und pfeifend hinter dem vierrädrigen Wagen her, Männer schimpften und suchten nach neuen Steinen. Kurz vor dem Waldrand erreichte der Karren die anderen Wagen und hängte sich hinten an.
Die Nachmittagssonne hatte es kaum durch die Wolken geschafft. Es war ein kalter Tag, zu kalt wieder einmal für die letzten Tage im April, empfand Oberst Heinrich Malfoss. Vielleicht waren die Gemüter der Städter deswegen so dunkel. Goslar hatte sich immer als eine tolerante, offene Stadt beschrieben. Doch auf einmal warfen die Bürger Steine, verprügelten die Kinder, drohten damit, sie aufzuhängen.
Die Zigeunerwagen ratterten durch den Wald, vom Harz empfangen mit viel Grün und einer kühlen Brise. Der Weg führte gen Osten.
Malfoss rief nach ein paar hundert Ellen seinen Enkel herbei. Der kleine Junge rannte neben dem Wagen her, verstand die Anweisung, blieb stehen, wartete den letzten Karren ab und kam nach einer Weile wieder nach vorne gerannt.
»Also, Junge? Sag mir gleich, wer ist es.«
»Ein Zauberer«, sagte der Junge und nickte heftig.
»Ein Magier also ist er. Und was, sag mir, zaubert er uns?«
»Gold«, sagte der Junge wieder, seine Augen waren groß und rund. »Viel Gold.«
Der alte Rom mit dem mächtigen Schnauzbart lachte und sah nach vorne. Der Hohlweg machte einen Bogen nach Südosten.
Ein Zauberer hatte ihnen gerade noch gefehlt, ein Zauberer, der weitere Probleme anzog, ein Zauberer, der von sich behauptete, Gold herstellen zu können, ein Alchemist.
»Der kann uns sicher helfen«, sagte der kleine Junge und zupfte dabei den Rom an der Jacke. Dieser lächelte milde.
»Mein Junge, ich sag‘ dir, uns kann nur Gott helfen, niemand sonst nicht, merk dir das schön. Gott alleine ist unser Beschützer, nicht? Die göttliche Mutter Develeski sorgt für uns, uns alle schön, und was sie tut ist richtig und wahr. Kein Mensch kann nie nicht in ihr Wirken eingreifen, sag ich, merk es dir.«
Der Junge nickte eifrig, griff nach einer Fiedel und begann zu spielen. Malfoss sah zufrieden zu und trieb gelegentlich die Pferde an.
Des Spielmanns Instrument
Der Hagel ließ nicht einfach nach, er stoppte so plötzlich, wie er eingesetzt hatte. Eben noch rauschten die erbsengroßen Körner einem Gazevorhang gleich von oben herab und das Prasseln auf den Blättern der Kastanien schwoll an zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen, jetzt herrschte plötzlich Stille.
Hier und da tropfte es von den Ästen, knarrte ein Baum, knackten Zweige. Selbst die Vögel schienen betäubt vom Lärm zu überlegen, ob es sich wieder lohnte, den Schnabel zu öffnen. Die Dunkelheit im Wald wurde zu einem hellen Grau. Lichter wurde es nicht, schon seit Wochen war die Sonne nur sporadisch zu sehen gewesen.
Tim streckte den Kopf unter einer Fichte hervor. Vorsichtig machte Tim erste Schritte zwischen kleinen Hagelhaufen, lief um Pfützen herum und hüpfte schließlich vor Vergnügen.
Das Leben hatte vor drei Tagen wieder einen Sinn bekommen.
Seitdem er von einem Jahr beschlossen hatte, Spielmann zu werden und mit der Musik seinen Lebensunterhalt zu verdienen, war es mit ihm bergab gegangen. Sein Vater hatte ihn vor die Tür gesetzt und die Schmiede an Tims jüngeren Bruder übergeben, seine Mutter hatte es vor Kummer die Sprache verschlagen, und seine Großmutter hatte ihm lediglich den spöttischen Rat mit auf den Weg gegeben, sich vor den Wölfen in Acht zu nehmen.
Wölfe. Das Bild im Kopf war fertig, brauchte keine weiteren Details. Spitze Zähne, gelbe Augen, drohendes Knurren und unbändiger Hunger. Immer drehte es sich darum, wie viele Geißlein der Wolf gefressen, welche Mädchen im Wald er verschlungen und warum er den Spielmann zerrissen hatte.
Niemand jedoch hatte sich ein Bild davon gemacht, was es für Tim bedeutete, Musik zu machen. Was Martin Luther für Reformierte, war Josquin Desprez, der Fürst der Musik, für Tim geworden. Seine Motetten, Messen und Chansons waren der Blitzschlag auf freiem Felde gewesen, die Erleuchtung des Unwissenden, die Aufklärung des Unmündigen.
Dessen ungeachtet hatte sich Tim das Leben des Musikers einfacher vorgestellt. Zwei gravierende Probleme stellten sich heraus. Zum einen nannte er bis vor kurzem lediglich eine Triangel sein Eigen und zum anderen konnte er nicht einmal sie spielen.
Wenn er sich auf den Marktplatz stellte und versuchte, mit seiner Triangel eine Melodie zu spielen, straften ihn die Passanten mit Missachtung oder, schlimmer noch bewarfen sie ihn mit faulem Obst und trieben ihn aus dem Ort.
Dann aber traf er mit knurrendem Magen zwischen Osterleben und Haldeberg ein altes Mütterchen im Wald, trug ihr in der Hoffnung, sie würde ihm etwas zu Essen dafür geben, einen Klafter Holz in die Hütte. Doch statt ihm Wurst und Käse zu geben, verschwand die Alte mit knackenden Gelenken durch eine schmale Tür. Gerade wollte er enttäuscht wieder gehen, das trat eine wunderhübsche junge Frau in die Hütte.
Sie war splitterfasernackt, mit riesigen, wippenden Brüsten, einem breiten Becken und üppigen Schenkel, zwischen denen kein Haar den Blick auf die Möse verbarg. Ohne Umschweife kniete sie sich vor ihn, öffnete seine Hose und holte seinen Schwanz heraus. Sie ließ wortlos sein kleines Männchen in ihrem Mund verschwinden und weckte Gefühle, die vor lauter Musik bereits vergessen schienen.
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