Hier wollte ich nicht bleiben, bei nächster Gelegenheit musste ich weglaufen. Der Mann verschwand mit dem Kind und die Frau schaute kurz beim Fenster hinaus. Die Türe war noch nicht ins Schloss gefallen, also lief ich so schnell ich konnte aus dem Zimmer. Da der Mann einen Stock unter mir auf der Treppe war, rannte ich lieber nach oben. Ich rief laut nach meiner Mutter. Der Mann mit dem Hackmesser und die Frau verfolgten mich. Oben angekommen bemerkte ich, dass es hier keinen Ausweg mehr gab, so drehte ich spontan um, lief den zweien entgegen und schaffte es, zwischen den beiden hindurch, die Treppe wieder runter zu laufen. Die Verfolger drehten sich erstaunt um und waren erneut hinter mir her. Ich musste schnell zu der Türe kommen. Total aus der Puste, kam ich am Haustor an, aber so sehr ich auch daran rüttelte, sie ging einfach nicht auf. Ich sackte zu Boden, legte meinen Kopf zwischen die Knie. Der Mann und die Frau waren bereits bei mir, lachten böse und meinten nur: „Jetzt bist du dran, hier kommt niemand hinaus.“
Schweißgebadet wachte ich auf, wenn meine Angst auch noch so groß war, meine Mutter sollte ich ja nicht rufen. Also vergrub ich mich diesmal in meine Decke und weinte bis ich nicht mehr konnte. Ein anders mal rief ich wieder nach ihr.
So kam es, dass ich meist nur wenige Stunden Schlaf bekam, den ich später ab und zu in den uninteressanten Schulstunden nachholte.
Meine Mutter zerrte mich erneut zu verschiedenen Ärzten. Zudem zu einer psychologischen Kinderambulanz im Krankenhaus. Hier sollte die Intelligenz von Viktor und mir festgestellt werden.
Als ich zum Test dran war, empfing mich eine freundliche Frau.
Sie lächelte offen und war auch viel hübscher als die Kindergartentanten. Weil sie mir sympathisch war, entschloss ich mich, mit ihr zu reden. Es gab Puzzles, verschiedene Bilder und Stifte, mit denen ich etwas malen durfte. Danach stellte sie mir ein paar Fragen und wollte, dass ich mir für meine Eltern Tiere ausdachte, denen sie gleichen. Als ich ihr die Tiere nannte, fragte sie mich, warum gerade dieses Tier.
„Also meine Mutter war ein Löwe, weil sie es im Sternzeichen ist und weil sie so laut brüllen kann wie ein Löwe. Sie kann schnell laufen und wenn einen die Pranke trifft, dann gleich gescheit. Sie ist sehr stark.
Mein Vater ist ein Schaf, ruhig und gut zum Kuscheln. Ein bisserl schüchtern und zieht sich gerne zurück. Aber da gibt es auch noch meinen Bruder. Ich hab ihn sehr lieb, aber er mich nicht so. Eigentlich ist er auch eher ein Löwe.“
Ich kann mich noch ganz genau an alles erinnern, sehe es noch vor mir, als ich auf dem Sessel saß. Meine Beine baumelten in der weißen Strumpfhose hin und her. Der Tisch war etwas zu hoch, also musste ich die Arme heben, um sie darauf zu legen. Meine Finger spielten ganz aufgeregt miteinander und ich erzählte mit vollem Einsatz und Grimassen.
Die Ärztin lächelte, meinte, ich hätte es wirklich gut beschrieben. Ich ging stolz in den Warteraum.
Beim anschließenden Gespräch zwischen der Ärztin und meiner Mutter durfte ich nicht dabei sein, aber die Türe war offen. Ich schlich mich leise an und lauschte mit. Immerhin wollte ich wissen, ob meine Geisteskrankheit unheilbar war.
Es hieß, dass sich meine Mutter bezüglich meiner Intelligenz überhaupt keine Sorgen machen muss, bloß wurde entdeckt, dass ich zur Legasthenie neige. Ich war schockiert, also stimmte es, ich war nicht ganz normal (… dachte ich damals). Was Intelligenz und Legasthenie hieß, wusste ich nicht.
Als die Schule begann, freute ich mich riesig, endlich hatte ich den blöden Kindergarten hinter mir. Endlich würde ich Schreiben und Lesen lernen. Ich konnte es kaum erwarten, nicht mehr von Mamas Stimmung abhängig sein, was das Vorlesen der Märchen betraf.
Stolz ging ich mit meiner Schultüte und der Schultasche aus gelbem Plastik los. Die Tasche war ganz neu. Mein Vater wollte sie nicht kaufen, weil sie zu teuer war, aber meine Mutter überredete ihn. Sie selbst hatte als Kind immer nur abgetragene Sachen bekommen, deswegen kaufte sie uns öfter Sachen, die mein Vater als unnötig bezeichnete.
Meine Eltern waren beide mit und obwohl ich ganz vorne eine Zahnlücke hatte, grinste ich stolz in die Kamera, wenn Fotos von mir geschossen wurden. Meine Mutter hatte mir ein beige-braunes Kleid genäht und in den Haaren war eine dazu passende Masche. Sie nähte mir oft Kleider, nur trug ich sie nicht so besonders gerne, denn dann durfte ich mich meist nirgends hinsetzten oder von der Kinderrutsche rutschen.
Mein Bruder war ein paar Klassen ober mir, was ihn zum einen stolz machte, aber zum anderen ärgerte, weil er keine Schultüte bekam.
Sorgfältig hielt ich Ordnung in meiner Schultasche. Meine Mutter gab mir immer ein Pausenbrot mit, das ich aber nie aß. Sie schmierte immer Butter unter die Wurst und das fand ich ekelig. Ich bat sie immer, die Butter weg zu lassen, aber sie meinte, ich brauche das.
Später, als mich meine Mutter in der Früh nicht mehr zur Schule brachte, warf ich das Brot schnell in den Mistkübel vorm Haus. Eines Tages jedoch fand sie es und das zog Konsequenzen nach sich. Geschrei und eine Tracht Prügel. Am nächsten Tag war wieder Butter darunter, also musste der Mist vor der Schule herhalten oder ein Kind tauschte es mit mir gegen einen Apfel.
Ich malte jeden der Buchstaben mit voller Begeisterung und Sorgfalt, die Direktorin lobte mich, weil ich die schönste Schrift in der Klasse hatte, aber die Lehrerin schrie mich an, weil ich wieder einmal das d mit dem b verwechselt hatte oder das ie mit dem ei. Ebenso bekamen die Großbuchstaben ihren Bauch in die andere Richtung, was der Lehrerin nicht gefiel. Sie strich mit ihrem roten Kuli über die ganze Seite, auch über die wunderschöne Zierleiste, und ich musste alles noch einmal schreiben. Bald trat die Schule an meine Mutter heran, dass sie einmal Legasthenie austesten lassen sollte. Als sie sagte, das wäre schon geschehen, schimpfte die Lehrerin, weshalb ich noch in keinem Förderkurs saß. Zu Hause warf mir meine Mutter vor, dass sie sich von der Schule anschreien lassen muss und das nur, weil ich nicht fähig war, richtig zu schreiben. Ihr Zorn steigerte sich und so kam, was halt immer kam, bis ich eingerollt am Boden lag. Manchmal trat sie in ihrer Wut noch mit ihren Füssen gegen meinen zarten Körper. Wenn es mir gelang, lief ich davon, damit sie mich nicht erwischte und schloss mich entweder auf der Toilette oder im Bad ein. Meine Mutter hatte aber einen Schlüssel, mit dem sie von außen die Türe öffnen konnte. Einmal schloss ich mich eben im Bad ein, sie sperrte auf und warf vor lauter Zorn den Schlüssel nach mir, dieser traf mich unglücklich am Kopf. Kurz darauf sah sie, wie mir das Blut ins Gesicht lief. Voller Panik hielt sie mir ein Tuch an den Kopf, legte mir nahe, dem Arzt nicht zu sagen, dass sie das war, denn sonst käme ich in ein Heim, weit weg von zu Hause. Oh Gott, niemals wollte ich in ein Heim, wo einem die Finger abgehackt werden. Beim Arzt erzählte ich, dass ich zu schnell unterwegs war und auf die Heizung gefallen bin. Mein Vater und der Rest der Familie bekamen die gleiche Geschichte aufgetischt. Der Arzt versorgte meine Platzwunde mit vier Klammern. Ich durfte mir den Kopf erst wieder waschen, wenn die Klammern heraus genommen wurden. Meine Mutter versuchte, mir die Haare zu waschen, ohne die Wunde zu berühren, denn sie waren ja vom Blut verklebt. Komisch sah es dennoch aus, um die Wunde wurden die Haare abrasiert, das würde wohl einige Zeit dauern, bis sie wieder die gleiche Länge wie die anderen hatten.
Bald darauf musste ich zweimal die Woche ins Krankenhaus zu einem Legasthenie Kurs.
Mit acht Jahren verschlang ich ein Buch nach dem anderen und wenn ich später kein neues zum Lesen hatte, las ich Mutters Liebesromane. Die Romane waren meist noch in alter Schrift verfasst, also erlernte ich sie parallel zum Schulunterricht. Verstanden habe ich natürlich noch nicht alles, aber es ging um die Liebe und das war schön.
Читать дальше