Juhu, ich hatte ein Geheimnis mit meiner großen Cousine. Ich war ja so stolz. Dreißig Jahre behielt ich es bei mir.
Der Ernst des Lebens rückte näher
Langsam näherte sich die Schulzeit, da meinte meine Mutter, ich sollte in den Kindergarten gehen, denn die Anderen sagten es wäre gut für die Kinder. Das Argument, ich könnte dort mit vielen Kindern spielen, lehnte ich vehement ab. Ich hatte Freunde, viele sogar, die ich mir zum Teil selber ausgesucht hatte. Immerhin wuchs ich in einem nagelneuen Gemeindebau auf, wo hauptsächlich junge Familien einzogen. Kindergarten für mich, das ging gar nicht!
Jeglicher Wiederstand wurde ignoriert, meine Mutter brachte mich eines Tages einfach in die Einrichtung.
Trotzig setzte ich mich in eine Ecke, keine einzige Träne kam, denn Weinen wurde sicher auch hier bestraft. In dieser Ecke saß ich bis zum Mittagessen, danach mussten wir schlafen. Da ich ja vom Herumhocken nicht besonders müde war, konnte ich es nicht. Die Tanten schimpften, wenn jemand die Augen offen hielt, also täuschte ich ein Nickerchen vor.
Ich hielt es durch, ein ganzes Jahr lang kam kein Wort über meine Lippen. Hin und wieder holte ich mir Bausteine und wenn ein anderes Kind dazu kam, war meine Spiellust vorbei.
Einmal dachten die Tanten, sie können mich austricksen. Sie stellten ein paar Möbeln um, nahmen mir den Sitzsack von meinem Eck weg und machten eine große Kuschelecke, weit von der Eingangstüre entfernt, wo mehrere Kinder Platz gehabt hätten. Als ich den Raum betrat, stupste die eine Tante die andere an und beide schauten erwartungsvoll, was ich nun tun würde. Schnurstracks stapfte ich zu dem Polsteraufbau und schleppte einen Sitzsack in mein gewohntes Eckerl hinüber. Da stand eine der Tanten auf und zog ihn mir gewaltvoll aus der Hand. Sie schrie mich an und meinte, der Sitzsack muss an seinem Platz bleiben, wenn ich ihn haben wollte, dann nur dort. Ich schaute sie hasserfüllt an, alle wollten mich zu etwas zwingen, ich pfiff drauf und setzte mich ohne den Sack in meine Ecke. Als mich meine Mutter abholte, beschwerten sich die Tanten wieder einmal bei ihr. Sie meinten, mit mir stimme was nicht und sie sollte doch einmal einen Intelligenztest machen lassen, noch bevor ich in die Schule käme. Meine Mutter klagte ihnen ihre Verzweiflung, sie stimmte ihnen zu, dass ich nicht ganz normal sei und sie hätte ja auch schon ihren ärztlichen Beweis. Entsetzten in den Gesichtern der Tanten: „ Aber gehört sie dann überhaupt in eine normale Schule?“
Zu Hause bekam ich dann den Frust meiner Mutter zu spüren. Zuerst mit den Händen, dann mit dem Teppichklopfer, bis er eines Tages abbrach. Ich wollte nicht weinen, denn ich wusste ja, dass meine Mutter dann noch böser wird, aber auch wenn ich mich noch so bemühte, meinen Schmerz hinunter zu schlucken, liefen Tränen die Wangen hinunter. Wenn die Tränen einmal ihren Weg gefunden hatten, dann wollten sie auch nicht so schnell wieder aufhören. Mir taten die Schläge weh, mein Hals fühlte sich vom Hinunterschlucken der Worte dick an und die Augen schwollen vom Weinen zu. Aber was noch viel mehr schmerzte, war der Hass in den Augen meiner Mutter und dass sie fähig war, mich derart zu schlagen, dass ich ihre Hände und den Teppichklopfer noch tagelang auf meinen Po und anderen Körperstellen spürte. Ich saß im Kinderzimmer, am Boden vor der Heizung, denn mir war ja fast immer kalt. Den Kopf zwischen die Knie gesteckt und die Beine fest umklammert. Meine Ohren glühten von den Ohrfeigen. Am liebsten wäre ich in den Erdboden verschwunden, einfach nicht da. Warum konnte ich nicht das erste Kind gewesen sein, welches meine Mutter verlor? Warum hatte mich der Irrsinn Leben getroffen, weshalb war meine Existenz krank, weshalb verstand mich niemand …
Am Wochenende war zum Glück einmal kein Besuch da und ich konnte in Ruhe alleine spielen. Auf meine Freunde hatte ich keine Lust und Viktor war mit seinen Jungs unterwegs. So konnte ich meinen Gedanken nachgehen …
Ich spielte meinen eigenen Western. Ein Duell mit einem anderen Cowboy, der mich erschoss. Ich ließ mich dramatisch auf mein Bett fallen und starb heldenhaft. Mein Leben war aber interessant, denn ich konnte zig Mal hintereinander sterben. Immer wieder probierte ich unterschiedliche Fallweisen aus, eine aktionsreicher als die andere. Es sollte so wie in den Filmen sein, wenn der Gute am Schluss doch noch erschossen wurde. Als meine Mutter ins Zimmer kam, verbot sie mir, auf dem Bett herum zu hüpfen, also musste ich am Boden weitersterben.
Albträume …
Nachts hatte ich oft Albträume. Jahrelang immer dieselben Geschichten.
Eine seltsame Geistergestalt öffnete nachts die Kinderzimmertüre und schlich um mein Bett herum. Ich zog mir die Decke über den Kopf und lugte nur seitlich ein wenig heraus, um zu sehen, ob die Gestalt noch hier war. Sie war noch da und tänzelte bedrohlich als weißer Nebel um mich herum. Sie flog wieder zur Türe hinaus und plötzlich kamen viele von den Geistern ins Zimmer. Es war jedoch Tag. Ich lief aus dem Raum und versteckte mich am Balkon unter dem Tisch. Die Gestalten lachten mich aus, denn sie würden mich überall finden. Ich huschte wieder hervor, an ihnen vorbei und war plötzlich vorm Haus. Ich konnte schnell laufen, also rannte ich los. Mein Herz schlug bis zum Hals und meine Füße gaben alles, was sie hatten. Hinter mir war plötzlich ein hageres Männchen, das mich einfangen wollte. Ich lief und lief, blieb aber immer an der gleichen Stelle und das Männchen kam immer näher und versuchte nach meinen Beinen zu greifen. Als ich einen festen Griff auf meinen Unterschenkel spürte, wurde ich immer wach.
Ich riss meine Augen auf und sah ins Finstere des Kinderzimmers. Zog mir die Decke bis über den Mund und begann zu weinen. Ich hatte furchtbare Angst. Je länger ich auf die Türschnalle schaute, desto genauer konnte ich sehen, dass sie sich langsam nach unten bewegte. Natürlich war da nichts, aber schauen Sie mal so lange auf eine Türschnalle …
Obwohl ich wusste, was mich erwartet, war einfach die Angst vor diesen bösen Gestalten viel zu groß. Ich rief vor lauter Angst meine Mutter, die erst nach einiger Zeit ins Zimmer kam. Sie steuerte auf mich zu und schlug mir mein meist noch immer schmerzendes Hinterteil aus. Lauthals schimpfend und mit dem Finger drohend ging sie wütend wieder ins Bett zurück.
Vielleicht hatte sie Mutter ja vertrieben, immerhin war auch sie Angst einflößend.
Vorsichtshalber schaute ich erneut auf die Türschnalle und schlief schließlich irgendwann ein. Viele Jahre und nahezu jede Nacht begleitete mich dieser Traum. Doch es sollte nicht nur bei diesem bleiben, der sich ständig wiederholte. Da gab es noch einen, der mir schwer im Magen lag.
Weiterer Albtraum …
Ich war wieder einmal schlimm und dumm, also brachte mich meine Mutter ins Heim. Der Gang ähnelte dem der Volksschule. Unten war ein großes, schweres Tor, welches das versperrt war. Eine Frau, die Klaras Kindermädchen im Heidi-Film ähnlich sah, brachte mich drei Stockwerke hoch in einen Raum. Dieser war klinisch weiß und auch die Kinder, welche die um einen Tisch saßen, hatten ein blendend weißes Hemd an. Es gab überhaupt keine Farben. Die Erwachsenen waren komplett schwarz gekleidet. Ich musste mich an den freien Platz setzen und die davor stehende Suppe essen. Niemand sprach auch nur ein Wort und man konnte eine Stecknadel fallen hören. Ich drehte unauffällig meinen Kopf zu dem Kind neben mir und flüsterte leise. Das Kind stieß mich an und meinte, die Kinder dürfen nicht miteinander reden. Leider hörte uns die Frau und zog das Kind brutal vom Sessel. Sie schleppte es hinaus, wo es ängstlich schrie. Später gingen wir in einen anderen Raum, dort sollten die Kinder arbeiten. Eines der Kinder machte einen Fehler, ich weiß jedoch nicht mehr genau was. Die Aufpasserin zerrte das Kind vom Platz und ein dicker Mann kam mit einem Hackmesser hinein. Die Frau hielt die Hand des Kindes gespreizt auf den Tisch und der Mann hackte einen der Finger ab.
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