Langsam wurden es immer weniger Leute. Jaíra und Fabio saßen gerade wieder auf der Bank und küssten sich, als sie von Juçara entdeckt wurden.
»Was macht ihr denn da?« Sie stand vor ihnen und starrte sie an. »Pai sucht dich. Du sollst sofort zu Tante Socorro kommen.« Sie sah die beiden an. »Euch hat es ganz schön erwischt!« Dann drehte sie sich um und verschwand.
Jaíra wurde von Fabio noch ein Stück begleitet. Mit klopfendem Herzen trat sie ins Haus. Was wäre, wenn Juçara gepetzt hätte? Nicht auszudenken! Ihr Verdacht war unbegründet, ihre Schwester hatte dieses Mal den Mund gehalten.
Jaíra hatte Manara überredet, dass sie bei ihrer Tante Socorro im Dorf übernachten durfte, endlich würde sie wieder Gelegenheit haben, Fabio zu treffen.
Nachdem sie am Ufer ihr Kanu an Land gezogen hatte, legte gerade das Flussschiff an. Ronaldo, der mit ihr zur Schule gegangen war, arbeitete auf dem Schiff und rief sie.
»Hallo Jaíra, hier ist Post und ein Paket für den Lehrer. Kannst du sie mitnehmen? Paulo ist noch nicht da, um die Sachen abzuholen, und wir legen gleich wieder ab.«
»Klar, ich gehe sowieso zu ihm.« Sie nahm das Paket und die Briefe.
»Oi Hans. Ich habe deine Post vom Schiff mitgebracht.«
Sofort stand Hans auf, gab ihr schnell zwei flüchtige Küsschen auf die Wangen und stürzte sich auf die Briefe, deren Absender er schnell überflog. Während er sich setzte und die Briefe las, erinnerte er sich an seinen Besuch.
»Wenn du etwas essen willst, nimm dir.«
»Ich habe schon bei ‚Tia’ Socorro gegessen«, antwortete sie und hob die Kaffeekanne hoch. »Soll ich Kaffee kochen?«
»Das wäre prima«, antwortete er und vertiefte sich gleich wieder in den angefangenen Brief. Sein Gesicht hellte sich auf.
»Mensch Jaíra, es hat geklappt.«
Er stand auf, stürzte auf sie zu, drückte sie ganz fest und gab ihr einen dicken Kuss auf die Wange.
»Was ist denn mit dir los?«, wunderte sie sich.
»Ich habe bereits lange den Gedanken, hier im Dorf eine Krankenstation zu errichten. Seit ich angekommen bin, ist das Dorf viel größer geworden, ebenso das nächste Dorf flussabwärts. Oberhalb gibt es die kleine Siedlung und da wäre es gut, wenn hier ein Krankenhaus wäre. Ich habe deshalb um Unterstützung gebeten und man hat mir zugesagt, zu helfen. Das wird zwar alles einige Zeit dauern, allerdings ist es schon mal ein Anfang.«
Er war begeistert. Schnell las er die anderen Briefe, um zum Schluss das Paket auszupacken. Jaíra hatte inzwischen die Kaffeekanne, Zucker und zwei Tassen auf den Tisch gestellt.
»Stell dir vor, das Paket von meinen Eltern ist über vier Wochen unterwegs gewesen. Endlich kann ich dir dein versprochenes Geburtstagsgeschenk geben.«
Er reichte ihr ein kleines, in buntes Papier eingeschlagenes Päckchen, das sie vorsichtig öffnete, um das Papier nicht zu beschädigen.
Zum Vorschein kam ein kleines Büchlein. »Der kleine Prinz« las sie. Beim Lesen des Autors weigerte sich ihre Zunge, die Worte auszusprechen und sie lachten darüber.
»Ich glaube, dass es dir gefällt. Es ist eine Geschichte über Freundschaft und Liebe.«
Er ging zu Jaíra, legte seine Hände auf ihre Schultern und sah ihr fest in die Augen.
»Pass bitte auf, dass du nicht schwanger wirst. Es wäre zu schade.«
Jaíras Kopf wurde blutrot.
»Ich möchte dir helfen.«
Er lächelte sie an und sein Kopf hatte ebenfalls eine rote Farbe angenommen.
»Es ist schwer für mich, als Mann mit einem jungen Mädchen, oder besser, einer jungen Frau darüber zu reden, ich glaube jedoch, dass wir uns lange genug kennen und genug Freunde sind, um uns über solche Dinge zu unterhalten. Was in deinem Körper vor sich geht, haben wir durchgenommen. Das Seelische ist dabei vielleicht etwas zu kurz gekommen.«
Er erklärte Jaíra noch einmal den weiblichen Zyklus und zeigte ihr, wie sie die fruchtbaren und unfruchtbaren Tage errechnen konnte.
»Hundertprozentig ist die Sache zwar nicht, aber besser als gar nichts.«
Bald verloren sie alle Scheu und sprachen offen und ohne Hemmungen miteinander.
»Und du?«, wollte Jaíra wissen.
»Ab und zu eine Liebelei. Auch ein alter Lehrer braucht manchmal ein bisschen Zärtlichkeit.«
»Du bist doch noch nicht alt.«
»Na ja, ich werde dieses Jahr vierzig.« Hans verdrehte lachend die Augen.
»Wollen wir ein bisschen in deinem Buch lesen?«
Hans hatte Jaíra richtig eingeschätzt, die Geschichte gefiel ihr auf Anhieb.
Beim Abschied hielten sie sich lange im Arm.
»Danke, dass du mein Freund bist.« Sie gab ihm einen Kuss auf den Mund.
Nachdenklich schaute er ihr hinterher. »Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.«
Am Abend traf sie sich mit Fabio, der sie gleich zu Paulos Schuppen zog. Seine Küsse und Zärtlichkeiten hatten diesmal einen bitteren Beigeschmack. Jaíra hatte lange Zeit gehabt, über die Worte von Hans nachzudenken. Sie hatte Angst und Fabio merkte es.
»Was ist los mit dir?«
Sie befreite sich aus seinen Armen und sah ihn an.
»Was würdest du machen, wenn ich ein Kind bekäme?«
»Bist du schwanger?« Fabio stand der Mund offen.
»Ich hoffe nicht, ich habe Angst, dass es passiert.«
»Du bist zu jung, da passiert nichts«, meinte er naiv.
»Na und, Micaela ist zwei Jahre jünger als ich und sie ist schwanger.«
»Manchmal passiert es halt, aber nicht bei dir. Jetzt komm schon.« Ungeduldig zog er sie zu sich.
Fabio kam ihr plötzlich sehr dumm vor.
»Lass mich«, herrschte sie ihn an.
Sie riss sich los und rannte weg. Verständnislos starrte Fabio hinter ihr her.
Jaíra saß auf der Veranda vor dem Haus und schaute in das Licht einer Kerze. Sie hatte Angst bekommen. Was, wenn sie wirklich schwanger wäre?
Manara, die ihre Stimmung bemerkte und sich Sorgen machte, setzte sich neben sie.
»Was ist los mit dir?«, fragte sie vorsichtig.
»Nichts, was soll denn sein? Es ist alles in Ordnung«, log sie.
»Ich bin deine Mutter, ich fühle, dass da etwas ist.«
Jaíra schüttelte energisch den Kopf. Nachdenklich sah Manara ihr nach, wie sie aufstand und hinter dem Haus verschwand.
Spät in der Nacht kam Eduardo nach Hause. Manara hatte auf ihn gewartet, die anderen lagen in ihren Hängematten und schliefen, nur Jaíra war noch wach. Sie hörte, wie Eduardo Manara küsste.
»Bevor ich herkam, war ich noch kurz im Dorf. Ich habe dort Hans getroffen und mit ihm gesprochen.«
Jaíra rutschte das Herz in die Hose und sie machte sich ganz klein. Hatte Hans sie verraten? Zitternd lauschte sie.
»Es gibt gute Neuigkeiten«, sagte er und Jaíra atmete erleichtert auf. »Hans hat versucht, dass wir ein Hospital im Dorf bekommen. Er sagt, dass es gar nicht so schlecht aussieht.«
Schnell aß er eine Kleinigkeit und ging später mit Manara hinter den Vorhang. Kurz darauf hörte Jaíra die Geräusche, die sie jetzt ebenfalls kannte und wusste, was sie bedeuteten.
Zum ersten Mal freute sich Jaíra, dass ihr Vater das ganze Kanu voller Maniokwurzeln mitgebracht hatte, die jetzt verarbeitet werden mussten. Mit Feuereifer war sie dabei, um sich von ihren Gedanken abzulenken. Am Abend fiel sie todmüde in ihre Hängematte und in dieser Nacht hatte sie keine bösen Träume.
Jaíra wurde immer aufgeregter und ängstlicher. Beinahe eine Woche waren ihre Tage überfällig. Lustlos saß sie neben Juçara auf der Veranda und schälte, wie ihre Schwester, Maiskolben, die ihre Mutter später rösten würde, als sie ein nur allzu bekanntes Ziehen in ihrem Unterleib bemerkte. Möglichst unauffällig ging sie ins Haus und überglücklich stopfte sie eine Binde in ihre Shorts. Erleichtert setzte sie sich neben ihre Schwester und nahm einen neuen Maiskolben in die Hand. Wissend grinste Juçara sie an.
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